Kunstmaler Bruno Wittenstein – Er liebte die Natur und die schöne Einsamkeit

Kunstmaler Bruno Wittenstein – Er liebte die Natur und die schöne Einsamkeit

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Reflexartig greift er zur Staffelei mit dem Sperrholzbild. Ein Windstoß hätte sie beinahe umgeweht. Er drückt das Gestell fest in den Boden, bis es wieder stabil steht. Sein Blick richtet sich zum Himmel. Wolken in grauen und merkwürdig erdfarbenen Tönen ziehen tief über die Hügelkette des Teutoburger Waldes und werfen Schattenbilder auf das grüne Land. Aus dem Gipfel der Grotenburg ragt das Schwert des Hermann. Die Luft ist klar. Das Schwert ist deutlich zu erkennen. Es zeigt gegen Westen, von wo die Wolken heranziehen. Der Wind rauscht durch Bäume und Büsche. Bruno Wittenstein spürt die Natur in Bewegung und Veränderung. Die Aussicht vom Hangstein ins Ostertal ist wundervoll – als Postkartenbild weithin bekannt. Doch eine idealisierte Postkartenstimmung berührt Wittenstein wenig. Bei Wind und Wetter wirkt die Natur intensiver und wahrhaftiger. Es ist, als würde ihr Schauspiel mit ihm sprechen. Diese Stimmung möchte Bruno Wittenstein im Bild festhalten. Für einen Moment erscheint dieses Ziel aussichtslos, da sich die Farbtöne im wandelnden Licht der ziehenden Wolken laufend verändern. Dann greift er entschlossen zum Pinsel und beginnt das Sperrholz zu bearbeiten: erst die Umrisse der Landschaft, dann die Farben… So in etwa könnte sich die Szene abgespielt haben, als der Kunstmaler Bruno Wittenstein vor etwa 100 Jahren sein Bild „Blick vom Hangstein auf die Grotenburg“ malte. Der Teutoburger Wald und das Hermannsdenkmal spielten in seinem Leben eine wichtige Rolle.

Blick vom Hangstein auf die Grotenburg
Blick vom Hangstein auf die Grotenburg

Bruno Wittenstein war naturverbunden und hatte eine besondere Vorliebe für geheimnisvoll anmutende Orte. Davon gibt es im beschaulichen Lipperland so einige. Sie berühren Wanderer und Naturfreunde bis zum heutigen Tag. Ein märchenhafter Ort, der Wittenstein in den Bann zog, war der Donoper Teich in der Nähe des Detmolder Ortsteils Hiddesen. Hier befindet sich inmitten des Waldes das stille Gewässer umgeben von Quellen, Heideflächen und Wacholderbeständen. Wittenstein malte hier mehrfach. Aus seinen Bildern spricht die Kraft der schönen, stillen Einsamkeit, von der auch der Dichter Hermann Löns schwärmte.

Am Donoper Teich
Am Donoper Teich

„Die Einsamkeit wollte ich haben,
nicht die schmerzliche, traurige, verlassene – die nicht,
aber meine stille, gute, kluge, liebe Einsamkeit,
die mir zuredet mit leisen Worten,
die mir ihre stillen Lieder singt,
und mit mir geht, stumm und froh…
am Donoper Teich standen dann lange und sahen in die klare Flut,
in der Nixenkraut grün vom Grunde wucherte;
uralte Bäume flüsterten und rauschten…“

„Frau Einsamkeit“ von Hermann Löns

Bruno Wittenstein war naturverbunden und hatte eine besondere Vorliebe für geheimnisvoll anmutende Orte. Davon gibt es im beschaulichen Lipperland so einige. Sie berühren Wanderer und Naturfreunde bis zum heutigen Tag. Ein märchenhafter Ort, der Wittenstein in den Bann zog, war der Donoper Teich in der Nähe des Detmolder Ortsteils Hiddesen. Hier befindet sich inmitten des Waldes das stille Gewässer umgeben von Quellen, Heideflächen und Wacholderbeständen. Wittenstein malte hier mehrfach. Aus seinen Bildern spricht die Kraft der schönen, stillen Einsamkeit, von der auch der Dichter Hermann Löns schwärmte.

Naturmalerei mit versteckten Botschaften

„Bruno Wittenstein ist ein Anhänger des malerischen Realismus und den Ideen der Freilichtmaler verhaftet“, schrieb Hermann Ludwig Schäfer 1956 in einem Bericht für die lippische Landeszeitung. Schäfer kannte Wittenstein persönlich und konnte ihn gut einschätzen. Doch Wittenstein war auch ein Romantiker, der das Geheimnisvolle und Poetische stiller Orte in der Natur spürte und immer wieder in seinen Bildern thematisierte.

Die Wildhütte im Naturschutzwald Lippe
Die Wildhütte im Naturschutzwald Lippe

Eine einsame Hütte im Wald, schon etwas betagt und im Begriff, von der Natur zurückerobert zu werden. Ein wunderbares Gemälde von Bruno Wittenstein, mit dem er die Vergänglichkeit thematisiert. Es zeigt die Wildhütte im ehemaligen Naturschutzwald Lippe zwischen Hiddesen und dem fürstlichen Jagdschloss Lopshorn, das 1945 abgebrannt war. Die Hütte diente als Futterspeicher für Wildtiere und existiert heute nicht mehr.

Bruno Wittenstein rahmte die Szene mit zwei mächtigen Bäumen ein. Durch die Äste der Bäume, deren Laub wie ein grüner Schleier herabsinkt, scheint in sanft rötlichen Tönen das Dach der alternden Hütte. Der Nadelbaum am linken Bildrand wirft seinen Schatten in tiefdunklem Blau, ebenso wie die langen Stehbalken, auf denen das alte Hüttendach lastet. Die Dunkelheit wirkte geheimnisvoll und vielleicht sogar etwas gespenstisch, was Bruno Wittenstein durch ein kalt schimmerndes Blau ausdrückte. Den farblichen Kontrast zu roten Tönen des Hüttendachs bildet die Grasfläche am Waldboden mit Variationen aus Türkis, Zyan und Grün. In Gras und Geäst leuchten kleine gelbe Farbtupfer – vielleicht sind es die Blüten von Blumen, Reflexionen des Sonnenlichts in Wassertropfen des morgendlichen Taus oder die Lichter kleiner Waldwesen. Bruno Wittenstein überlässt die Deutung der Phantasie des Betrachters. In einem seiner Texte schrieb er darüber, dass in einem urwüchsigen Wald Märchenphantasien entstehen können. In diesem Gemälde ging es Wittenstein nicht nur darum, eine Naturlandschaft zu malen, sondern seine Wahrnehmung von einer beseelten Natur durch Motiv und Farben auszudrücken.

Die Brücke (über die Werre in sommerlicher Landschaft, Detmold Volkhausenstraße)
Die Brücke (über die Werre in sommerlicher Landschaft, Detmold Volkhausenstraße)

In seinem Gemälde „Die Brücke“ zeigt der Maler die Flusslandschaft der Werre in Detmold an der Volkhausenstraße in friedlicher Sommerstimmung. Eine alte Steinbrücke mit Halbbogen verbindet die beiden Flussufer, flankiert von grünen Wiesen, Büschen und drei charaktervollen Bäumen, zwei links und einer rechts. Von historischen Fotos ist bekannt, dass die gehobene Detmolder Gesellschaft diesen Ort sehr gerne zum Flanieren aufsuchte. Wittenstein mag das Motiv aber auch aus anderen Gründen gewählt haben. Die Brücke ist ein uraltes Symbol – sie steht für den Weg und die Überwindung von Hindernissen. Sie hilft dem Reisenden, seinen Weg fortzusetzen. Vielleicht dachte Wittenstein auch an Friedrich Nietzsche, der den Vergleich zum Menschen zog: „Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“

Das Gemälde erhält eine angenehme Farbigkeit durch das Zusammenwirken von blauem Himmel, grünen Wiesen und der sandfarbenen Brücke in der Bildmitte. In den Spiegelungen des Wassers durchmengt sich das Blau des Himmels mit den Erdfarben des Schattenwurfs der Brücke. Spannung erhält das Bild durch die drei Bäume, die wie übergroße Gestalten auf beiden Brückenseiten stehen. Wirkt der eine Baum links nicht wie ein Goliath, der seine Arme hochreist? Und bilden die beiden Astlöcher des Stamms auf der rechten Seite nicht die grimmige Mine eines Waldwesen? Wittenstein vermittelt einmal mehr die Lebendigkeit der Natur und spielt dabei mit der Phantasie des Betrachters.

Schwalenberg bei Abenddämmerung
Schwalenberg bei Abenddämmerung

Als Bruno Wittenstein sein Bild „Schwalenberg bei Abenddämmerung“ malte, schaute er von einer Anhöhe herunter auf die wunderschöne mittelalterliche Stadt, über der auf einem Hügel die Burg Schwalenberg wacht. Die natürlichen Wellenformen der Landschaft und der Zauber des Lichts resonierten mit den Emotionen des Naturfreunds Wittenstein. Er strich mit dem Pinsel die Farben entlang der Formen, wie der Wind über die Gräser im Tal und am Hang der Burg. Die warmen Töne der abendlichen Sonne bringen die Wolken, Wiesen und Bäume in Gelb, Grün und Zyan zum Leuchten. Angesichts des Farbspektakels scheint es, dass der Künstler in Ekstase geriet und ganz im Einklang mit der Natur malte. Auch darin mag der Betrachter eine versteckte Botschaft finden. Das Leben im Einklang mit der Natur gilt als die essentielle Lebensweise. Sie beinhaltet im Grunde alles, was der Mensch wirklich braucht – denn dann ist er eins mit der Natur.

Ursprünge der Familie Wittenstein

Die Familie von Bruno Wittenstein hatte ihre Wurzeln in der Gegend von Wuppertal. Im Jahr 1775 verließ Cornelius Wittenstein seinen Heimatort Möllenkotten aus besonderem Grund: er wollte Henriette Krüger aus Horn bei Detmold heiraten. Henriette war die Witwe des verstorbenen Wirts des Gasthauses mit Poststation in Horn, das heutige „Landgasthaus Zur Post“. Cornelius Wittenstein konnte Henriette für sich gewinnen und führte die Wirtschaft weiter. Regelmäßig machten die Boten und Kutscher der Thurn-und-Taxis’schen Post auf dem Weg nach Paderborn Halt und berichteten von den Schrecken durch die Französische Revolution. Cornelius Wittenstein galt als gebildet und weitsichtig. Wohl deshalb wurde er 1784 zum Ratsherrn und 1808 zum Stadtkämmerer von Horn gewählt. Sohn Friedrich-Cornelius II. baute den Postbetrieb weiter aus und stellte dafür Einspänner und Pferde zur Verfügung. Daneben betrieb seine Verwandtschaft auch die Gastwirtschaft an den nahegelegenen Externsteinen. Eine Lithographie aus dem Jahr 1830 zeigt mehrere Personen vor der einmaligen Kulisse des Sandsteinmonuments. Elisabeth Wittenstein, eine Nichte des Malers Bruno Wittenstein, vermutet in dem Bild ihre Vorfahren, die sich im Garten und am Haus aufhalten.

Familie Wittenstein vor großartiger Kulisse der Externsteine, Lithographie von Wilhelm Tegeler (Quelle: Lippische Landesbibliothek)
Familie Wittenstein vor großartiger Kulisse der Externsteine, Lithographie von Wilhelm Tegeler (Quelle: Lippische Landesbibliothek)

Während sich einige Familienmitglieder der Wittensteins in Richtung Amerika und Argentinien aufmachten, blieben andere in der Region. Der Sohn von Friedrich-Cornelius, Friedrich-Conrad Cornelius III., führte das väterliche Geschäft in Horn weiter und ergänzte es um eine Weinhandlung. Das gehobene Bürgertum und die hohe Geistlichkeit im nahegelegenen Erzbistum Paderborn zählten zu den Kunden, aber auch fremde Gäste. Im Handbuch für Reisende von 1869 wurde das Gasthaus Post Wittenstein in Horn als „gut und nicht teuer“ empfohlen.

Wahrscheinlich führte der Weinhandel Cornelius III. öfter ins Rheinland. Es wurden Filialen in Hamm und Lippstadt eröffnet, über die fortan die Weinlieferungen nach Horn erfolgten. Cornelius III. hatte neun Söhne und eine Tochter. Sohn Heinrich-August übernahm den Betrieb vor Ort. Wilhelm-Cornelius zog es nach Lippstadt und Karl-Wilhelm nach Hamm, um zu heiraten und die Weinfilialen der Familie zu leiten.

Weinhandlung Wittenstein und Carl Meiers Restaurant, Detmold ca. 1885 (Quelle: Lippische Landesbibliothek)
Weinhandlung Wittenstein und Carl Meiers Restaurant, Detmold ca. 1885 (Quelle: Lippische Landesbibliothek)

Als die Post zunehmend auf die Eisenbahn verlegt wurde, verkauften die Wittensteins ihren Betrieb 1871 in Horn und zogen nach Detmold in den Renaissancebau in der Langen Straße Nr. 19, wo sich heute das Hotel „Detmolder Hof“ befindet. In bester Lage, nur unweit vom Schloss des Fürsten, öffnete Heinrich-August wieder eine Weinhandlung. Elisabeth Wittenstein beschrieb Heinrich-August und seine Frau als liebevolle und sehr naturverbundene Menschen. Die „Atmosphäre“ im Haus war wichtiger als „Geld verdienen“, hieß es. Obwohl das Ehepaar fünf Kinder hatte, übernahm Karl-Wilhelms Sohn Felix den Betrieb der Weinhandlung in Detmold. In der Festschrift zur 1900-Jahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald von 1909 befindet sich eine Werbung der Weingroßhandlung C. Wittenstein mit einem Hinweis, dass Felix Wittenstein Inhaber und auch Hoflieferant war. Der gesellschaftlich gut vernetzte Felix genoss Privilegien am Fürstenhof für Lieferungen von Wein.

Stadt Hamm um (Quelle: Hammer Verkehrsbuch, 1902)

Aufgewachsen in Hamm in Westfalen

Bruno Wittenstein kam am 17. September 1876 in Hamm in Westfalen zur Welt. Seine Eltern Karl-Wilhelm Wittenstein und Sophia Berning betrieben dort die Weinhandlung C. Wittenstein. Bruno wuchs gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Felix auf. Tragisch war, dass Vater Karl-Wilhelm verstarb, als sich die beiden Brüder noch im Kinderalter befanden. Sophie Wittenstein führte den Weinhandel erfolgreich weiter und galt vor Ort als prominente Persönlichkeit. Sie gehörte schon zuvor zur gehobenen Gesellschaft und zeigte dies 1886, als sie ein Trinkhorn als Siegerpreis zum großen Pferderennen in Hamm stiftete. 1895 besaß Sophie Wittenstein ein eigenes Haus in der Stadtmitte und verkaufte in ihrem Geschäft, das sie selbstbewusst „Cölner Dom“ nannte, neben Wein auch Zigarren. Sohn Felix galt als ein rühriger und eloquenter Mensch. 1899 war er Vorstandsmitglied des Vereins zur Hebung der Industrie und des Verkehrs in Hamm und zudem als Händler im Auftrag seiner geschäftstüchtigen Mutter unterwegs.

Es war die Zeit des deutschen Kaiserreichs, geprägt durch Hochindustrialisierung, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, starkes Bevölkerungswachstum und die Monarchie. Moderne traf auf Tradition – politische und gesellschaftliche Konflikte waren absehbar, nicht hingegen die Gefahren durch die Macht der Technologie.

Auch die beschauliche Hansestadt Hamm erlebte den wirtschaftlichen Aufschwung. Wie in der umliegenden Region, wurde auch in Hamm nach Kohle gesucht – erfolglos. Stattdessen, völlig unverhofft, stieß man bei Bohrungen auf eine Solequelle. So wurde 1882 das Thermal-Solbad Hamm gegründet. Im „Hammer Verkehrsbuch“ von 1902 schreibt Felix Wittenstein über den Aufschwung in Hamm: „Das Gemeindewesen, Handel und Wandel, Gewerbe und Industrie, Kunst und Wissenschaft haben sich gut entwickelt… Heute beginnt mit Hamm das große Rheinisch-Westfälische Industriegebiet, und die Stadt, die sich nur langsam entwickelte, wird, nachdem die Anlage von Kohlezechen in nächste Nähe beschlossene Sache ist, einen großen Aufschwung nehmen.

Werbung Weingroßhandlung Wittenstein (Quelle: Hammer Verkehrsbuch, 1902)

Mit dem Kurbetrieb kamen betuchte Gäste in die Stadt. Davon profitierte auch die Weinhandlung Wittenstein.  „Stets zu Diensten“ hieß es bei Wittensteins, wenn es um den Verkauf von deutschen Weinen oder französischen Sekt ging. Gemäß einer Werbung im Hammer Verkehrsbuch befand sich das 1873 gegründete Haupthaus „Cölner Dom“ in der Weststraße sowie eine Filiale am Markt in der Widumstr. 1.

Der junge Bruno Wittenstein besuchte das königliche Gymnasium in der Brüderstrasse 60. Hier bildeten qualifizierte Lehrer mit Erfolg den Nachwuchs aus. Das Gymnasium brachte eine beachtliche Anzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Forschung und Kunst hervor. Ganz offenbar hatten die Lehrer eine besondere Beobachtungsgabe für die Talente ihrer Schüler. In einem Bericht der Lippischen Landeszeitung von 1968 hieß es: „Schon während seiner Schülerzeit wurden die Lehrer auf die künstlerische Begabung des ungewöhnlich strebsamen Schülers aufmerksam.“ Sehr wahrscheinlich waren es Bruno Wittensteins Mentoren, die ihn darin bestärkten, sein Talent an den bekannten Kunstakademien weiter auszubilden. So wurden in Hamm die Weichen für die Zukunft von Bruno Wittenstein gestellt.

Studienjahre

Nach seiner Schulzeit machte sich Bruno Wittenstein auf in das Abenteuer Kunst. Seine Mutter unterstützte ihn dabei. Die wesentlichen Stationen, die Bruno Wittenstein während seines Studiums durchlief, waren Berlin, München und Rom. Hermann Ludwig Schäfer berichtete 1956 in der lippischen Landeszeitung, dass Bruno Wittenstein 1895 nach Berlin zog, um an der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin zu studieren. Zu seinen Lehrern dort gehörten der Historienmaler Anton von Werner und die Figurenmaler Paul Hanke und Walter Friedrich. Anton von Werner galt als konservativ, verhärtet und typischer Repräsentant des Wilhelminismus. Der Kaiser setzte die Kunst ein, um dem Volk traditionelle Positionen zu vermitteln. Moderne Stilrichtungen wie der Impressionismus und Expressionismus lehnte er ab. Anton von Werner, der eine zentrale Rolle in den Berliner Kunstinstitutionen einnahm, war für den Kaiser der richtige Mann, um die Kunst in seinem Sinne zu lenken. Von Werner wurde sogar zum künstlerischen Berater des Kaisers ernannt. Was genau den jungen Wittenstein dazu bewegte, Berlin recht bald wieder zu verlassen, ist heute nicht bekannt. Vielleicht spürte der junge Wittenstein den Mangel an künstlerischer Freiheit an der Berliner Akademie, oder es gab finanzielle Gründe, die ihn in eine andere Richtung trieben.

Postkarte von Bruno Wittenstein aus München, 1898 (Quelle: Stadtarchiv Hamm)
Postkarte von Bruno Wittenstein aus München, 1898 (Quelle: Stadtarchiv Hamm)

1896 wechselte Bruno Wittenstein nach München, um sein Studium an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste fortzusetzen. Hier fühlte er sich offenbar wohl. Auf einer Postkarte mit Eingangsstempel 24.4.1898 gibt der Kunststudent eine kleine Kostprobe seiner zeichnerischen Fähigkeiten und schickte herzliche Grüße an den Oberprimaner Ferd. Niedick, Hamm in Westfalen, Ostenallee, und den A.A.D.R.C.H., einen Ruderclub des damaligen königlichen Gymnasiums in Hamm. Der Karte ist zu entnehmen, dass Bruno Wittenstein in München in der Blüthen- oder Bleibtreustrasse 2 wohnte.

Die Akademie verhielt sich gegenüber den neuen Kunstrichtungen aufgeschlossen und entwickelte sich zu einem Magnet für die späteren Protagonisten der Moderne. Der Maler Paul Höcker wurde im Dezember 1891 als Professor an der Akademie berufen und galt dort als der erste „Moderne“. Das wäre in Berlin undenkbar gewesen. Und es gab noch einen weiteren Vorteil in München: König Ludwig I. förderte die zeitgenössische Kunst und Kultur in einem unvergleichlichen Ausmaß. In München konnten Künstler nicht nur überleben, sondern zu Vermögen gelangen.

In seinem Bericht schrieb Hermann Ludwig Schäfer, dass Bruno Wittenstein einen Figuren- und Landschaftsmaler aus der Begas-Künstlerfamilie kennenlernte. Schäfer gab dabei an, dass es sich um einen Bruder des Bildhauers Reinhold Begas handelte und dass dieser einen Kontakt zu Franz von Lenbach herstellte. Die Begas-Brüder waren alle künstlerisch begabt und aktiv. Doch der einzige Bruder, der 1896 neben Reinhold noch lebte, war der Bildhauer Karl Begas (der Jüngere). Karls Sohn Ottmar hatte etwa das gleiche Alter wie Bruno Wittenstein. Ottmar war in Rom geboren und studierte Malerei für eine kurze Dauer in München. Es ist belegt, dass er 1898 bei Franz von Lenbach lernte. Von daher ist anzunehmen, dass Bruno Wittenstein sehr wahrscheinlich Ottmar Begas kannte und mit ihm etwa zeitgleich studierte. Ähnlich wie von Franz von Lenbach, wenn auch im bedeutend kleineren Umfang, malte Wittenstein später ausdrucksstarke Portraits bedeutender Persönlichkeiten, die den Einfluss des Malerfürsten spüren lassen.

Franz von Lenbach prägte im späten 19. Jahrhundert den Mythos von München als Kunststadt entscheidend mit. Er war weltgewandt und wusste sich als virtuoser Maler in Szene zu setzten. Der Kontakt zwischen Bruno Wittenstein und dem berühmten Malerfürsten konnte nur durch Größen in der Kunst wie Karl und Reinhold Begas eingefädelt worden sein, die von Lenbach durch einen Studienaufenthalt in Rom und die gemeinsame Lehrtätigkeit an der Kunstschule in Weimar kannten.

Blick über Berchtesgaden auf den Watzmann (Quelle: Jürgen Braunsdorf)
Blick über Berchtesgaden auf den Watzmann (Quelle: Jürgen Braunsdorf)

Wittenstein gehörte in München zur Gilde der freischaffenden Künstler. Es reiste auch aufs Land, an den Chiemsee und ins Berchtesgadener Land, wo er interessante Motive fand und malte. Zur Jahrhundertwende entstand in München mit der Moderne ein Gegenpol zur konservativen Kunst. Es ging um Freiheit und neue Ausdruckformen in der Kunst. Diese Entwicklungen blieben Bruno Wittenstein vermutlich nicht verborgen. Zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Künstlervereinigung München“ gehörte auch der Tonkünstler Oscar Wittenstein. Er stammte aus einer alteingesessenen, wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Barmen und war Künstler, Unternehmer und Flugpionier. Oscar Wittensteins Sohn Jürgen schloss sich später der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ an. Die Familien von Oscar und Bruno Wittenstein hatten beide ihre Ursprünge in Wuppertal. Dass sich die Namensvetter in München je trafen, ist unwahrscheinlich. Es liegen keine Indizien dafür vor.

Hermann Ludwig Schäfer berichtete, dass Bruno Wittenstein im Jahr 1900 eine Studienreise nach Rom unternahm. Viele Maler taten dies vor ihm, so auch Franz von Lenbach oder die Begas-Maler, um die „Alten Meister“ zu studieren. Wittenstein verbrachte angeblich ein Jahr in Rom und war dort auch malerisch aktiv. In Künstlerkreisen galt er als gern gesehener Gast, knüpfte Bekanntschaften und malte angeblich Aquarelle und Ölgemälde mit Motiven aus Albaner Bergen und in der Campagna. Der Aufenthalt in Rom war der krönende Abschluss von Wittensteins Studium. Danach kehrte er in seine Heimatstadt Hamm zurück.

Zwischen Hamm und Detmold

Unterlagen im Stadtarchiv Hamm belegen, dass Bruno Wittenstein 1902 im Ortsausschuss des evangelischen Kirchengesangvereins tätig war und bis 1903 in der Widumstr. 1 wohnte. Kurz vor Jahresende, am 15.12.1903 heiratete Bruno Wittenstein die aus Hamm stammende Elvira Karoline Lydia Andrée (*4.3.1879). Offenbar bestand zwischen den beiden eine innige Liebe, denn genau neun Monate nach der Hochzeit wurde Töchterchen Irmgard am 11.9.1904 in Hamm geboren. Im Katalog der Frühjahrsausstellung Detmolder Künstler vom März 1910 ist ein Portrait des Kultusministers Dr. Falk (begonnen von Frau Rose Falk) gelistet, was belegt, dass Wittenstein in seiner Heimatstadt als Maler wirkte.

Angeblich war es Felix Wittenstein, der seinen Bruder im Jahr 1903 einlud, mitsamt seiner Familie nach Detmold zu ziehen und dort zu wirken. Detmold war der Regierungssitz von Fürst Leopold IV. zu Lippe. Die Stadt war geprägt vom Schloss, dem Landestheater, dem Landtag und der Fürstlichen Bibliothek. Hier lebten prominente Persönlichkeiten aus Politik, Kirche, Kultur und Gesellschaft, also eine interessante Klientel für einen ausgebildeten Kunstmaler aus München. Detmold galt zwar nicht als malkunstverständige Stadt, und zudem war das kleine Fürstentum eher ärmlich. Dennoch sah Bruno Wittenstein hier für sich eine berufliche Chance, zumal sein Bruder inzwischen auch die Weinhandlung in Detmold führte und Lippe schöne Landschaften und Städte mit vielen Motiven bot.

Der Wechsel von Bruno Wittensteins junger Familie von Hamm in die lippische Residenzstadt erfolgte offenbar im Laufe der Jahre 1903 und 1904, denn es finden sich Angaben zu Bruno Wittenstein in Hamm und in Detmold während dieser Zeit. In Detmold eröffnete Bruno Wittenstein eine kleine private Malschule und warb für seine Kurse in der lippischen Landeszeitung. Detmold bemühte sich, erste Kunstausstellungen zu organisieren. Doch das Vorgehen schien konzeptlos und nicht durch Erfolg gekrönt. Währenddessen versuchte, Bruno Wittenstein weiter Fuß zu fassen und malte Landschaftsbilder und Portraits. Am 22.9.1907 kam die zweite Tochter Ingeborg in Detmold zur Welt.

Werbung Malschule Bruno Wittenstein (Quelle: Lippische Landeszeitung, 11.4.1904)
Werbung Malschule Bruno Wittenstein (Quelle: Lippische Landeszeitung, 11.4.1904)

Leben und Wirken in Lippe-Detmold

Die Industrialisierung zog in Lippe nur mit Verzögerung ein. Es gab hier keine Bodenschätze und der Fürst betrachtete die neuen Entwicklungen skeptisch. So spielte nach der Jahrhundertwende die Landwirtschaft immer noch eine zentrale Rolle in Lippe. Mit dem Bauboom, den die Industrialisierung in Deutschland auslöste, verließen Menschen die Landwirtschaft und wurden Wanderarbeiter, so wie die lippischen Ziegler.

Fürst Leopold verfolgte seinen eigenen Interessen. Da kam ihm ein historisches Ereignis gelegen, mit dem das Volk geeint und auf alte Werte eingeschworen werden konnte. Im Jahr 1909 jährte sich die berühmte Varusschlacht im Teutoburger Wald zum neunzehnhundertsten Mal. Unter der Schirmherrschaft des Fürsten sollte eine große Feier mit Festzug inszeniert werden. Detmold war dafür prädestiniert, denn das Wahrzeichen der Schlacht, das Hermannsdenkmal, befand sich nur einen Fußmarsch entfernt. Die Brüder Wittenstein übernahmen bedeutende Rollen im Festzugsausschuss. Felix hatte die technische und Bruno die künstlerische Leitung. Die Zeichnungen und der Buchschmuck der Festzugsmappe sowie die Entwürfe der Festzugswagen wurden von Bruno Wittenstein erstellt. Der Festzug hatte mit etwa 1000 Statisten und 200 Pferden ein gewaltiges Aufgebot.

Der Varusschlacht wurde damals eine ganz besondere historische Bedeutung zugemessen. Die einen sahen darin die Befreiung der Germanen von den römischen Besatzern, die anderen den Ursprung Deutschlands. Bei dem Mythos schwangen eine Idealisierung und Überheblichkeit mit, deren Gefährlichkeit in der Euphorie nicht erkannt wurde.

Wie zurückgewandt Fürst Leopold war, zeigte sich einmal mehr im Jahr 1912, als er für sein Gendarmenkorps die ehemalige lippische Füsilieruniform von 1867 wiedereinführte, also eine aus der Zeit geratene Soldatenuniform für die damalige Polizei. Der Aufwand wurde für gerade einmal 21 Gendarmen in 18 Stationen betrieben. Bruno Wittenstein erstellte im Auftrag farbige Abbildungen von diesen Uniformen. Es ist anzunehmen, dass er gerne solche Aufträge annahm, denn es galt als privilegiert, für den Hof zu arbeiten, und es brachte einen Verdienst ein. Doch im Grunde fehlte den lokalen Malern wie Wittenstein in Detmold etwas Wichtigeres: eine Kunstszene und ein Markt, die regelmäßig interessante Aufträge bringen. Zwar durften er und seine Malerkollegen immer mal wieder ihre Arbeiten im kleinen Zeichensaal des Fürstlichen Gymnasiums ausstellen. Doch damit kamen sie nicht vorwärts. Es brauchte einen neuen Impuls.

1913 versammelte Bruno Wittenstein einige freischaffende Künstler in Detmold um sich mit der Idee, die Kunst vor Ort zu beleben und einen Markt aufzubauen. Geplant waren Kunstausstellungen, Gesprächsrunden und Malkurse. Doch die Idee schien unterzugehen in einer Zeit, als das hochgerüstete Deutschland sich auf den Krieg vorbereitete. Viele Männer wurden zur Armee eingezogen oder melden sich gar freiwillig, darunter auch Künstler. Bruno Wittenstein blieb jedoch in Detmold. Er war nun 37 Jahre alt und sicherlich kein Avantgardist, der einen Glauben oder eine Hoffnung mit dem Krieg verband und sich deshalb angeboten hätte.

Bei den Menschen auf dem Lande bestand zudem eine Skepsis angesichts des Krieges, denn es ging ihnen so schon nicht gut, und die eingezogenen Männer hinterließen schmerzhafte Lücken auf Bauernhöfen und in den Betrieben. Lippe gehörte zum Deutschen Hinterland und spüre daher von den Kämpfen an den Fronten wenig. Doch die Bevölkerung litt im Laufe der Zeit zunehmend unter den Versorgungsmängeln und hatte Kriegsopfer zu beklagen.

Erster lippischer Landtag des Grafen Simon VI., Wandgemälde, Amtsgericht Detmold (Quelle: Hans-Bodo Goldbeck)
Erster lippischer Landtag des Grafen Simon VI., Wandgemälde, Amtsgericht Detmold (Quelle: Hans-Bodo Goldbeck)

Auf Anregung des Landtagsabgeordneten Pastor Alexander Zeiss aus Schwalenberg, Sohn des Malers Emil Zeiss und ein großer Förderer der Künstlerschaft, und durch den Landtagspräsidenten Riekehof-Böhmer aus Brake erhielt Bruno Wittenstein 1916 einen herausfordernden Auftrag. Er sollte ein Historiengemälde im Vorraum zum Sitzungssaal des zwei Jahre zuvor eingeweihten Landtags­gebäudes in Detmold (heutiges Amtsgericht) erstellen. Thema des Gemäldes war der erste lippische Landtag des Grafen Simon VI. zur Lippe, der am 14. Juli 1579 im Freiem unter der Linde in Blomberg-Cappel stattfand. Bei dem Ereignis erklärte sich Simon formal bereit, die Verantwortung für seine Grafschaft zu übernehmen. Wittenstein konnte zeigen, was er bei Anton von Werner gelernt hatte. Angeblich malte Wittenstein das Bild nicht auf einem Gerüst, wie es hätte sein sollen, sondern auf einer schwankenden Leiter. Es wurde etwa 1919 fertiggestellt und blieb das einzige Wandgemälde dieser Größe, das Wittenstein je malte.

Zeichnungen von Bruno Wittenstein, Lippische Fibel 1916
Zeichnungen von Bruno Wittenstein, Lippische Fibel 1916

Infolge des Krieges sanken die Einkommen, und Waren wurden teurer. Bruno Wittenstein musste flexibel sein, um Einkommen zu generieren. Eine zusätzliche Einnahmequelle war die Arbeit als Zeichner für Verlage wie der Meyerschen Hofbuchhandlung. So finden sich zum Beispiel in dem Lese- und Schreibbuch für Schulanfänger „Lippische Fibel“ von 1916 Zeichnungen von Bruno Wittenstein mit Motiven aus Lippe/Detmold, darunter eine Marktszene vor dem Detmolder Rathaus und das Schloss, über dem ein zigarrenförmiges Luftschiff schwebt – „Hightech“ bestaunt und bewundert von allen Zeitgenossen.

Wittensteins Bemühungen, die bildenden Künstler des Landes zusammenzubringen, führte 1917 zur Gründung des „Lippischen Künstlerbunds“ gemeinsam mit August Eberth und Ernst Rötteken, die beide zuvor als Maler und Kunstlehrer am Gymnasium in Detmold wirkten. Wenige Jahre später kam auch Karl Henckel hinzu. Wittenstein wurde der erste Vorsitzende des Künstlerbundes, dessen Ziel es war, lokalen Malern eine Plattform zu geben und die heimische sowie auswärtige Kunst zu fördern. Ihre große Vision bestand in dem Aufbau einer städtischen Galerie. Dazu kam es jedoch nicht. Aufgrund des Krieges und seiner Folgen sollte es sogar sechs Jahre dauern, bis es zur ersten Ausstellung des Künstlerbundes kam.

Waldstück mit sich neigenden Kiefern am Donoper Teich

Natur und Heimat waren Kernthemen des Künstlerbundes für die Kunst im ländlich geprägten Lipperland. Etwas Anderes wäre bei der lokalen Klientel vermutlich auf wenig Interesse gestoßen. Doch es ist bekannt, dass die Maler des Künstlerbundes eine große Liebe zur Natur verband. Lippes vielseitige und romantische Landschaften boten ihnen jede Menge interessante Motive. Sie malten das, was sie liebten. Für Bruno Wittenstein war die ursprüngliche Natur beseelt, und er drückte dies in seinen Gemälden aus. Einer Quelle zufolge pflegte er Kontakte zu dem Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus, der in Hagen das Folkwang-Museum gründete und eine Vorreiterrolle in der modernen Kunst einnahm.

Mit dem Ende des Krieges im November 1918 stand die alte Welt endgültig zur Disposition. Als die die geschlagenen Soldaten auch nach Detmold zurückkehrten, hatte dort zwischenzeitlich eine Revolution stattgefunden. Der Fürst dankte ab und ein Volks- und Soldatenrat übernahm die Regierung. Das Fürstentum wandelte sich zu einem Freistaat. Anfang 1919 wurde ein neuer Landtag demokratisch gewählt, der die Landesregierung bestimmte. Der Kopf des neuen Landespräsidiums war der Sozialdemokrat Heinrich Drake.

In den 1920er Jahren zog es spätimpressionistische Maler in den kleinen lippischen Ort Schwalenberg, um hier in der idyllischen Landschaft zu malen. Einige von ihnen kamen aus Berlin, Hannover und Düsseldorf. Es entstand eine Künstlerkolonie mit dem beliebten Treffpunkt „Künstlerklause“. Bruno Wittenstein pflegte Kontakte zu Malern in der Künstlerkolonie und kam dafür gelegentlich zu Besuch. Es sind jedoch keine gemeinsamen Aktivitäten mit den „Schwalenbergern“ bekannt. Der Lippische Künstlerbund bliebt unter sich und richtete 1923 seine erste Ausstellung in den Räumen der fürstlichen Wagenremise in Detmold aus. Anschließend folgten regelmäßig Ausstellungen jeweils kurz vor Weihnachten.

Lippischer Schriftsteller und Mundartdichter Wilhelm Osterhaus, ca. 1920

Als ausgebildeter Portraitmaler war Bruno Wittenstein entsprechend gefragt, die Persönlichkeiten in Detmold und Umgebung mit einem schönen Portrait zu ehren. Etwa 1920 malte Wittenstein Bildnisse von Wilhelm Osterhaus und Dr. Otto Weerth mit Kreide auf Karton. Osterhaus war ein lippischer Schriftsteller und Weerth war Vorsitzender des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins in Lippe. Das Portrait von Weerth befindet sich heute im Flur des Erdgeschosses im Lippischen Landesmuseum. Wittenstein malte auch Portraits bereits verstorbener berühmter Persönlichkeiten, die aus Detmold kamen oder dort wirkten. So entstanden Gemälde des Dramatikers Christian Dietrich Grabbe und des musikalischen Multitalents Albert Lortzing, der von 1826 bis 1833 der Detmolder Hoftheatergesellschaft angehörte. Im Fall von Lortzing kopierte Wittenstein ein Portrait, das der Maler Friedrich Gustav Schlick etwa 1845 erstellte.

Durch die Industrialisierung verschwanden langsam aber sichtbar die alten Handwerke und damit ihre stillen Stars. Bruno Wittenstein malte den lokalen Altmeister des Kupferhandwerks Johann Adolf Tille (1806 – 1863) im Auftrag der Firma Carl Tille in Horn. Peter Klapprot, Kunstverständiger aus Hagen interpretiert dieses Werk wie folgt:

Auf den ersten Blick mutet Wittensteins Porträt eines Kupferschmids wie ein Genrebild an. Die einer Grisaille ähnliche Farbwahl macht das Bruststück zudem nicht gerade gefällig. Mehr Interesse vermag der lebendige Pinselstrich wecken, mit dem der Maler virtuos dieses Porträt im Viertelprofil geschaffen hat. Diese Lebendigkeit kulminiert im Gesicht des Mannes und spiegelt sich besonders in seinen Augen wider. Dieser leicht verträumte Blick ins Licht kann als religiöse Ergebenheit gedeutet werden. Sicher haben wir es mit einem Mann zu tun, der trotz harter Arbeit und einfacher Verhältnisse sich seine Offenheit und Lebendigkeit bewahrt hat. Dieser Mann hat sich in sein Schicksal gefügt, hat alle Schläge – wir wissen nicht welche – bewältigt und hat nun im Alter Erfüllung gefunden. So ist Wittensteins Bild keineswegs ein in Serie gemaltes Genrebild, sondern der Ausdruck eines engagierten Realismus, der die Würde eines ehrlichen einfachen Handwerkers dokumentiert.

Im Juni 1923 kam es in Bruno Wittensteins Familie, die zu der Zeit in der Woldemarstraße 19 unweit des Stadtzentrums lebte, zu einem Schicksalsschlag. Im Alter von nur 44 Jahren starb Elvira Wittenstein. Damit stieg die Belastung für Bruno Wittenstein enorm – nicht nur seelisch – er musste sich nun umso mehr um seine zwei Töchter Irmgard und Ingeborg kümmern. Das war schwierig, denn im Land gab es kaum bezahlte Arbeit und die Menschen hatten entsprechend wenig Geld. Kein Wunder also, dass Bruno Wittenstein chronisch knapp bei Kasse war. Überlieferungen berichten davon, wie der Maler versuchte, Lebensmittel, Waren oder Mietausstände mit Gemälden zu bezahlen. Er nutzte alle Gelegenheiten, um mit seinen Fähigkeiten etwas Geld zu verdienen: er malte, zeichnete im Auftrag oder schrieb Artikel für die Lippische Landeszeitung.

Die persönliche Situation von Bruno Wittenstein verschlimmerte sich weiter, als eine seine Tochter Ingeborg dauerhaft erkrankte. In einem Brief an die Lagenser Malerin Clara Schumann schrieb er, dass die schwere Krankheit seiner Tochter große Anstrengungen erforderte. Archivunterlagen belegen, dass Ingeborg und Irmgard im April 1932 nach Berlin, Alexanderplatz 7, zu einer Familie Hagemeister zogen. Scheinbar folgte der Vater im Mai 1932. Ingeborg ging von September bis Dezember aufs Land nach Radensleben-Neuruppin, womöglich zur Erholung. Bruno Wittenstein versuchte, weiterhin in Detmold aktiv zu bleiben, was Gemälde aus dieser Zeit belegen. In einer Biographie der Malerin Ingeborg Schwonke aus Oldenburg heißt es, dass ihre Eltern sie 1936 für mehrere Monate in das Pensionat Diekmann nach Detmold schickten. In ihrer Freizeit nahm sie Unterricht bei Bruno Wittenstein, der in dieser Zeit in der Hornschen Strasse 59 in Detmold lebte.

Auch der Lippischen Künstlerbund taumelte seit Jahren aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse. Hin und wieder kam für dessen Mitglieder etwas Geld rein durch Kunstaufträge für Schulzwecke, wovon auch Wittenstein hin und wieder profitierte. Ab 1933 geriet der Künstlerbund in den Fokus der Nationalsozialisten. Künstler mussten sich dem Reichsverband Bildender Künstler anschließen und wurden so gleichgeschaltet. Der Lippische Künstlerbund überlebte dennoch irgendwie, trotz der denkbar schlechten Bedingungen.

Am 1. November 1935 heiratete Irmgard. Ein gutes Jahr später, im Januar 1937 zogen Bruno Wittenstein und die pflegebedürftige Ingeborg um in die Lagesche Straße 72 zur Familie Willer. Bruno Wittenstein kannte August und Johann Willer in Detmold vermutlich schon lange. Jeder, der mit Farben arbeitete, musste die Willers kennen, denn sie führten seit 1904 einer Malerfachschule und eine Farbenfabrik. Die Willers waren Unternehmer und trotz schwieriger Zeiten wirtschaftlich stabil. Vermutlich wollten sie Bruno Wittenstein, den sie schätzten, mit einer günstigen Unterkunft helfen. Insbesondere zwischen dem ausgeglichenen August Willer, der auch ein passionierter Kunstmaler war, und Bruno Wittenstein schien es zu harmonieren. Wittenstein drückte seine Dankbarkeit mit einem schönen Portrait von August Willer aus. Es gibt keine Hinweise darüber, dass Bruno Wittenstein in der Malerschule von August Willer mitwirkte. Womöglich hatte er Bedenken, dadurch vereinnahmt zu werden. Stattdessen bezahlte er den ausstehenden Mietzins immer mal wieder mit Gemälden. Auf diese Weise gelangten mehrere Werke in den Besitz der Familie August Willer.

August Willer, Maler aus Detmold
August Willer, Maler aus Detmold

Klaus Jürgens, Maler aus Detmold-Heiligenkirchen und Jahrgang 1928, kann sich an Bruno Wittenstein noch erinnern: „Da ich schon als junger Bursche an Kunst interessiert war, besuchte ich die weihnachtlichen Kunstausstellungen durch den Lippischen Künstlerbund. Die fanden jedes Jahr in der heutigen Musikhochschule statt. Das erste Mal war ich 1942 dort. Und da lernte ich Bruno Wittenstein und auch Karl Henckel kennen. Wir sprachen über Kunst, und sie luden mich ein: komm doch mal vorbei und schau zu. Wittensteins Atelier befand sich in einem Haus, das sich direkt hinter dem Haupthaus von August Willer anschloss. Im Erdgeschoss befand sich ein etwa 40 qm großer Raum. In diesem Raum arbeitete und lebte er. Er schlief dort, hatte auch Küche und was man sonst so benötigt. Ich durfte ihm bei seiner Arbeit zusehen. Er war freundlich und vielleicht etwas introvertiert.”

Blick auf Horn und die große Egge, ca. 1942 (Quelle: Lippisches Landesmuseum)
Blick auf Horn und die große Egge, ca. 1942 (Quelle: Lippisches Landesmuseum)

Die Malerei in der schönen Natur war für Bruno Wittenstein mehr denn je zum Rückzugsgebiet von den Sorgen und Belastungen des Lebens geworden, erst recht nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs. Zu den Gemälden aus dieser Zeit gehören „Blick auf Horn und die große Egge“ (1942), „Heiligenkirchen Mitte“ (ca. 1942) oder „Kammermühle Heiligenkirchen“ (1943). In seinem Aquarell der Kammermühle sieht Wittenstein die Mühle mit umliegenden Bäumen und blumenüberzogenen Wiesen in einer abgekühlten Stimmung. Durch blasse bläuliche Töne wirkt die schöne Landschaft mit Kälte überzogen – vielleicht eine versteckte Anspielung auf die Folgen des Krieges, der mit der Schlacht von Stalingrad seine ganze Grausamkeit zeigte und eine Wende andeutete.

Als der Krieg kippte, wuchs der psychische Druck auf die Menschen, so auch in Detmold. Gemäß Überlieferungen aus der Familie Willer war Bruno Wittenstein ein Mensch, der Freundlichkeit und Frieden ausstrahlte. Wenn der Stress in der Familie zu groß wurde, verschwanden die Kinder angeblich zum Maler.

Bruno Wittenstein wohnte mit seiner Tochter bei den Willers, bis August im Jahr 1954 starb. Danach wechselten beide in das Kreisaltersheim „Haus Hoheneichen“ Detmold, Friedrich-Richter-Straße 17. Im hohen Alter von 93 Jahren verstarb Bruno Wittenstein am 27.2.1968. Bestattet wurde er auf dem Waldfriedhof Kupferberg in Detmold.

Beziehungen zu Prof. Dr. Max Apffelstaedt und zur Familie Löns

Hatte Bruno Wittenstein Kontakte zu Hermann Löns oder dessen Familie? Hinweise darauf finden sich in dem Nachlass von Prof. Dr. Max Franz Apffelstaedt, Zahnmediziner, Gründer der Zahnklinik der Universität Münster und leidenschaftlicher Kunstsammler. Apffelstaedt war mit Hermann Löns und dessen Familie befreundet. In seinem Nachlass befinden sich diverse Dokumente, Fotos, Briefe und Gegenstände, die mit Löns in Verbindung stehen. Mit dabei sind sechs Lithographien von Bruno Wittenstein mit Motiven vom Donoper Teich und der Heidelandschaft in der nahegelegenen Senne. Hermann Löns wanderte 1898 durch den Teutoburger Wald, sinnierte am Donoper Teich und setzte seinen Weg fort in die Senne. Fasziniert von dieser Wanderung schrieb er seine Gedanken und Gefühle in der Geschichte „Frau Einsamkeit“. Was die Empfindungen für die Natur und stille Orte anbelangt, waren sich Löns und Wittenstein ähnlich. Sicherlich kannte Wittenstein die Texte von Löns. Ob sich die beiden je kennenlernten, wissen wir nicht. Es ist aber denkbar, dass Wittenstein über Apffelstaedt die Familie Löns kennenlernte. Elisabeth Löns malte selbst Portraits. Einige davon befinden sich auch in dem Nachlass von Apffelstaedt. Und Hermann Löns‘ zweite Frau Lisa Hausmann hatte ebenfalls einen künstlerischen Hintergrund. Ihr Vater Gustav Hausmann war ein bekannter deutscher Maler, der bevorzugt Landschaften malte.

Heide im Naturschutzbezirk, Lithographie mit Autogramm (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, M. Apffelstaedt 6,032)
Heide im Naturschutzbezirk, Lithographie mit Autogramm (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, M. Apffelstaedt 6,032)

Beziehung zur Malerin Clara Ernst

Clara Ernst zählte zu den ersten Frauen in Lippe, die den Weg der Künstlerin selbstbewusst gingen, und wurde in einem französischen Kunstjournal zurecht als „Fee des Zeichenstifts“ bezeichnet. Sie war Mitglied im Lippischen Künstlerbund, in dessen Ausstellungen ihre Werke erschienen. Es ist anzunehmen, dass sie von daher Bruno Wittenstein begegnete. Dass sich die beiden sehr schätzten und näher kannten, belegt ein Brief, den Bruno Wittenstein vor 1938 an Clara Ernst schrieb.

Am Donoper Teich, Lithographie mit Autogramm (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, M. Apffelstaedt 6,034)
Am Donoper Teich, Lithographie mit Autogramm (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, M. Apffelstaedt 6,034)

In dem Brief drückt Bruno Wittenstein seine große Dankbarkeit gegenüber Clara Ernst aus, die ihn offenbar mehrfach finanziell unterstützte, damit dieser seiner kranken Tochter helfen konnte. Wittenstein wollte sich nicht nur durch Dank, sondern auch durch seinen künstlerischen Rat erkenntlich zeigen. Clara Ernst galt als mitfühlende Frau, die anderen Menschen half, auch wenn ihre eigenen Mittel begrenzt waren.

Brief von Bruno Wittenstein an Clara Ernst (Quelle: Stadtarchiv Lage)
Brief von Bruno Wittenstein an Clara Ernst (Quelle: Stadtarchiv Lage)

Clara Ernst wurde im eigenen Leben mit Vergänglichkeit und Tod konfrontiert, und setzte sich als Künstlerin damit auseinander. Dabei wurde der ihr vertraute Maler Bruno Wittenstein, der schon einen beachtlichen Lebensweg hinter sich hatte, zum Gegenstand Ihrer Kunst. Das Bild zeigt den gealterten Maler mit übergroßen Händen – erschöpft und sich abstützend. Dahinter Malwerkzeuge, eine Uhr und eine Staffelei mit dem bekannten Motiv der Brücke. Hier bekommt das Motiv eine andere Bedeutung – die Brücke könnte für den Übergang zum Jenseits stehen, ebenso wie die Treppe, die zwei alte Menschen, ein Mann und eine Frau, mühselig erklimmen, um dann durch eine Pforte ins Unbekannte zu verschwinden. Womöglich ist dies ihr letzter Weg. Mit diesem Bild, aus dem Blickwinkel der sensiblen Frau und Künstlerin Clara Ernst, wird Bruno Wittenstein als Mensch und Maler besonders geehrt.

Zeichnung von Clara Ernst – Maler Bruno Wittenstein (Quelle: Lippisches Landesmuseum)
Zeichnung von Clara Ernst – Maler Bruno Wittenstein (Quelle: Lippisches Landesmuseum)

Bildinterpretationen

Peter Klapprot aus Hagen in Westfalen hat für uns als Kunstverständiger Bilder von Bruno Wittenstein interpretiert.

Blick auf die Grotenburg

Bruno Wittensteins Ansicht der lippischen Schweiz zeigt eine Landschaft in Bewegung. Die Linien der Hügel, Bäume und Felder steigen und fallen in dynamischen Diagonalen. Ruhe bietet der Horizont, durchbrochen von dem aufragenden Hermannsdenkmal und ebenso wie die Wolkenbank am Himmel. Auch dieser bewölkte Himmel an diesem Spätsommertag, der von Wind, vielleicht Sturm spricht, trägt zur Dramatik des Bildes bei.

Blick auf die Grotenburg
Blick auf die Grotenburg

Die Grotenburg – der Berg, auf dem das Hermannsdenkmal thront – bildet den Hintergrund dieses Bildes. Das Denkmal taucht als kleiner Strich etwas rechts von der Bildmitte auf; einerseits beleuchtet vom matten Licht, welches durch den bedeckten Himmel fällt, andererseits überschattet von der mächtigen Wolkenbank. Wie Theaterkulissen säumen die Hügel im Mittelgrund den linken und rechten Bildrand. Markant auch, dass ein ausgeprägter Vordergrund, der ebenfalls zur ruhigen Betrachtung einlüde, dem Bild fehlt. Der Blick des Betrachters „rutscht“ förmlich den Hang, auf dem der Maler gesessen hat, um sich einen Überblick über die landschaftliche Szenerie zu verschaffen, hinunter und folgt den halbwegs ebenen Ackerflächen, auf denen vereinzelte Gehöfte stehen, in die Tiefe.

Anders als in Barock und Romantik, wo die Maler zwar auch naturalistisch malten, doch die Kompositionen ihrer Bilder nach Proportionsregeln zusammenstellten, schildert Wittenstein uns einen echten unveränderten Anblick der Lippischen Schweiz. Damit folgt er einerseits den frühen deutschen Landschaftsbildern, wie etwa von Dürer und Altdorfer. Andererseits orientiert er sich am damals zeitgenössischen Konzept der Neuen Sachlichkeit, deren Künstler sich wieder auf die Welt des Sichtbaren zurückbesannen.

Naturalist bleibt Wittenstein auch in seiner Farbigkeit, verwendet er doch ausschließlich die Vorort vorgefundenen Lokalfarben. Diese Farben lässt er mit zunehmender Bildtiefe verschwimmen und folgt damit den akademischen Gesetzen der Luftperspektive. Wittensteins Metier ist der Farbauftrag. Hier huscht sein Pinsel begeistert bis nervös über den Malgrund, seine Lust am Malen, an der Farbe, am Leben findet hier ihren Ausdruck. Hier verzichtet er auf naturalistische Kleinlichkeit, die erstrebt, jedes Detail, jedes Blatt am Baum, malerisch zu erfassen. Hier gibt er sich dem begeisterten Schwung seiner Hand hin und malt und tupft und streicht und ist ganz Bewegung.

Maler und Motiv, beide sind in Bewegung. Die gesamte Komposition mit ihren Diagonalen lässt dem Auge des Betrachters kaum Ruhe. Alles spricht von Bewegung, Wandel und Veränderung. Die dargestellte Natur zeigt sich vorm Umbruch. Herbst und Sturm dräuen in der Luft. Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren laß die Winde los, staunte Rainer Maria Rilke ehrfürchtig.

Im Rausch des Malens taucht Bruno Wittenstein ein in den Fluss des Lebens, vertrauend darauf, dass seine Hand den rechten Strich machen wird, vertrauend darauf, dass es einen Käufer geben wird für dieses Bild, vertrauend, dass sich alles fügen wird und dass alles – auch das Schwere – Sinn machen wird. Vielleicht gelingt ihm als Künstler dieses Vertrauen etwas leichter, jedenfalls ist er freier, das Jetzt, den Augenblick zu nehmen, um sich aufzumachen und weiterzugehen, in seiner Kunst, in seinem Leben, weiterzugehen und loszulassen und Hermann Hesses Vers Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde zu – ja – zu beherzigen.

Am Donoper Teich

Blick auf die Grotenburg
Blick auf die Grotenburg

Aus dem Schutz des Waldes fällt der Blick auf das Wasser des Teiches. Es scheint früher Herbst zu sein. Die Natur trägt noch ein ansehnliches Grün, während erste Äste oben im Bild bereits kahl sind. Den Himmel tönt ein zartes Orange; es scheint Morgen oder Abend zu sein. Der Maler Bruno Wittenstein hat den Donoper Teich wohl öfter besucht und im Bild festgehalten. Das Landesmuseum in Detmold besitzt eine kleine Radierung von Wittenstein, die ebenfalls – wenn auch aus einer anderen Perspektive – das Gewässer zeigt, das auch heute zu den beliebtesten Ausflugszielen im Teutoburger Wald gehört. Anders als die früheren und heutigen Touristen hat sich der Künstler bewusst abseits gehalten und den Teich aus eigenen und ungewohnten Ansichten festgehalten.

Mit seinem Gemälde hat Wittenstein ein klassisches Landschaftsgemälde geschaffen. Typisch für den lippischen Maler ist sein fast impressionistischer Farbauftrag, allerdings in naturalistischer Farbigkeit. Im Vordergrund der Waldboden mit den Bäumen, die sich mit ihren Wurzeln darin festkrallen, während im Mittelgrund ruhig der Teich liegt. Den Hintergrund bildet das wenig differenzierte Grün des Waldes, über dem eine markante Hügelformation aufsteigt, die nach links einen kleinen Fernblick bietet.

Auffallend ist, wie Wittenstein mit den Bäumen rechts und links den Blick des Betrachters im Bild hält. Hier folgt er der klassischen Kompositionsregel, die ein Abschweifen des Auges verhindern wollte und den Blick in die Tiefe führte, um dort mit einem interessanten Sujet, einem ansprechenden Farbkontrast aufzuwarten.

Genau diesen „Kunsttrick“ versagt jedoch der Akademieabsolvent sich und uns. Stattdessen bietet er uns einen Ausschnitt Natur, ungeschönt und unaufgeregt. In dem er auf eine Sensation verzichtet, die es zu betrachten und zu verarbeiten gälte, lässt er unsere gespannte Aufmerksamkeit frei.

So wie er sich hier der akademischen Konvention entzieht, mag sich Wittenstein den alltäglichen Konventionen seiner Zeit gerne entzogen haben. Als Künstler mit einer besonderen Sensitivität ausgestattet, hat er sicher die Veränderungen seines Lebensraumes im Lippischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahrgenommen. Die allgemeine Beschleunigung durch Kraftdroschken und Motorräder, Telefone und Telegramme könnte auf ihn ungeheuer gewirkt haben. Um der Sensation von außen zu entgehen, hat er sich gerne in die archaische Gegenwelt des Waldes zurückgezogen.

Abseits von gängigen Touristenpfaden fand er die Stille, die ihm erlaubte, das Eigene zu empfinden.

In der Versenkung in der Natur ist vielleicht etwas passiert, was viele Menschen aus eigener Erfahrung kennen. Die dauernden Gedanken um gestern und morgen kommen zur Ruhe; ein Ankommen im Augenblick wird möglich. Die Fäden der Vergangenheit, die so gerne an uns ziehen, bündeln und lösen sich plötzlich wohltuend im Nu. Noch mehr scheint passiert: Die Kräfte der Natur – insbesondere die Magie der Abend- bzw. Morgenstunde – scheinen ihn ergriffen zu haben und in ihm eine sanfte Erregung, ein Zittern ausgelöst haben, welches im nervösen Duktus seines Pinsels Ausdruck findet und sich erst in der Darstellung des Wassers beruhigt.

Mit dem Blick auf den Donoper Teich hat Wittenstein quasi ein Meditationsbild geschaffen, unbelassene Natur, fast wie ein Mandala komponiert. Mehr noch: der Blick aus der Geborgenheit des Waldes auf das lebensspendende Wasser ist ein Archetypus. Jahrzehntausende haben unsere halbwilden Vorfahren diesen Blick geliebt, der Wald, der ihnen Schutz bot und das Wasser, das man trinken kann und das Wild anlockt. So konnten sie leben, gut leben. Dieses archetypische Bild entfaltet seine Wirkung noch heute auf uns. Warum sonst zieht es uns ans Wasser, warum sonst schlendern wir so gerne an Flüssen und Seen entlang und manchmal sogar am Meer?

Das Wittenstein-Puzzle

Vor drei Jahren stießen wir in einem Keller in Detmold unverhofft auf Gemälde, die zum Nachlass der Familie August Willer gehörten. Darunter war eine Kreidezeichnung von Bruno Wittenstein. Anfangs hielten wir es für einen Zufall, dass sich dieses Bild unter den anderen befand. Doch mit unseren Recherchen stellte sich heraus, dass Bruno Wittenstein mehrere Jahre bei den Willers lebte. Das weckte unsere Neugier, und wir fassten nach. Die Information zu Wittenstein in den Online-Medien war spärlich. Das machte unsere Arbeit schwieriger und spannender. Es tauchten weitere Gemälde auf, die vermutlich seit Jahrzehnten niemand zu Gesicht bekam. Durch mündliche Überlieferungen entstanden neue Erkenntnisse, jedoch noch mehr Fragen. Wir entdeckten zwei Gemälde im Raum Heidelberg und nahmen Kontakt mit Archiven und Museen auf. Immer mehr Interessenten halfen, Puzzlesteine zu finden, die sich schrittweise zu einem Bild von Bruno Wittenstein zusammenfügen. Warum ist Bruno Wittenstein für uns heute interessant? Er war ein ausdrucksstarker Künstler, der die Seele in der Natur spürte, dies in seinen Bildern durch Motive und Farben ausdrückte und damals schon für den Schutz der ursprünglichen Natur warb. Doch wir können noch etwas Anderes von ihm lernen – wie wertvoll es ist, an einem stillen Ort innezuhalten, die Zeit einfach mal laufen zu lassen und sich bewusst zu werden, wie schön es ist, hier zu sein.

Sie können uns helfen!

Wir suchen Zeitzeugen rund um Bruno Wittenstein, seine Gemälde, Studienzeit und Familie. Haben Sie Informationen zu Wittenstein oder seinen Gemälden aus seiner Zeit in Berlin, Detmold, Hamm, München oder Rom? Wittenstein signierte die meisten seiner Gemälde mit dem Kürzel „BW“. Wir freuen uns über jeden Hinweis!

Kontakt Zürich:
Stephan Teiwes: stephan.teiwes@bluewin.ch, Telefon: +41 56 406 2916

Kontakt Detmold: Hubert Fricke: hubert.fricke@gmx.de

Danksagungen

Hubert Fricke, Kunstförderer, Detmold-Hiddesen, der unermüdlich Puzzleteile zu Wittenstein sucht und findet; Dr. Karin Althaus, Leiterin “Sammlungen/Ausstellungen/Forschung/Kunstvermittlung”, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München; Jürgen Braunsdorf, Kunstförderer und Naturschützer, Kreis Lippe; Manfred Dröge, Kunstrestaurator und -förderer, Detmold; Margorzata Gierok, Detmold; Hans-Bodo Goldbeck, Führungen am Landgericht Detmold; Ulrich Herrmann, Enkel von August Willer, Detmold – er wünschte sich, dass die Menschen seine Gemälde von Wittenstein sehen können; Christiane Hucke, Kunstförderin und Urenkelin von August Willer, Rattenberg; Peter Klapprot, Kunstförderer und -lehrer, Hagen; Dr. Diana Lenz-Weber, Kuratorin für Kunst und Angewandte Kunst, Gustav-Lübcke-Museum Hamm; Jürgen Lenzing, Universitäts- und Landesbibliothek Münster; Ilona Paul, Stadtarchiv Detmold; Christina Pohl, Stadtarchiv Lage und Autorin zu Clara Ernst; Ernst Rötteken, Enkel des Malers und Kunstförderer; Dr. Heinrich Stiewe, Referat Sammlungen/Volkskunde, LWL-Freilichtmuseum Detmold; Jochen Thesmann, Stadtarchiv Hamm; Gisela Stücke, Kunstförderin, Detmold-Heiligenkirchen; Eckhardt Teiwes, Kunstförderer, Lage; Klaudia Wolf, Regionaldokumentation, Lippische Landesbibliothek, Detmold; Sabine Wolf, Kunstförderin, Starnberg; Dr. Michael Zelle, Direktor des lippischen Landesmuseums und nicht zuletzt der Heimatverein Detmold-Heiligenkirchen, der sich für das Andenken an Bruno Wittenstein einsetzt.s leo.

Literaturhinweise 

Ursprünge der Familie Wittenstein:

Studienjahre:

Leben und Wirken in Hamm und Lippe-Detmold:

Max Apffelstaedt, Hermann Löns:

Clara Ernst:

Geschichtlicher Hintergrund:

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