Klausenpasshöhe – starker Ort zum Abschalten

Klausenpasshöhe – starker Ort zum Abschalten

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An diesem spätherbstlichen Tag zieht es mich in die Abgeschiedenheit der Berge. Es mag merkwürdig klingen, aber ich suche die Ruhe und die Einsamkeit. Manchmal finde ich den Alltag schlichtweg überladen mit Anforderungen, Aufgaben und medialer Überflutung. Die Einsamkeit schafft Distanz und Raum nur für mich. Berge und Natur penetrieren nicht. Sie sind schon immer dagewesen. Und ob ich da bin oder nicht, ist ihnen egal. Zumindest stelle ich mir das so vor.

Wunderbare Abgeschiedenheit auf der Klausenpasshöhe
Wunderbare Abgeschiedenheit auf der Klausenpasshöhe

Ich habe mein Auto auf der Klausenpasshöhe abgestellt. Der Klausenpass gehört zum Westteil der Glarner Alpen, geologisch gesehen ein aussergewöhnliches Gebiet. Üblicherweise liegen junge Gesteinsschichten über den alten. Doch in den Glarner Alpen ist es umgekehrt, wie kluge Geologen festgestellt haben. Es müssen vor Millionen von Jahren gewaltige Kräfte gewirkt haben, um hier die geologische Ordnung auf den Kopf zu stellen. Es entstand eine Tektonik-Arena, die heute als Glarner Überschiebung bekannt ist und 2008 von der UNESCO als Welterbe anerkannt wurde.

Auf 2000 Metern Höhe spüre ich, wie die frische Bergluft in meine Lungen dringt und meinen Kreislauf anregt. Ein erfrischendes Gefühl. Mehrere Wanderpfade führen von dem Parkplatz in die zerklüftete Landschaft. Ich schlage einen der Wege in Richtung Westen ein, der Sonne entgegen. Vereinzelt treffe ich auf Wanderer. „Grüezi, mitenand!“. Manche sind in Gesprächen vertieft, andere geniessen einfach die Bewegung und die grossartige Aussicht.

Einige Meter vom Wegesrand entdecke ich einen grossen Felsen. Seine Kanten sind von Eis, Wind und Wetter abgerieben. Die Eile habe ich Zuhause gelassen, denke ich mir. Also setze ich mich und lasse meine Blicke über die Landschaft schweifen. Die gewaltige Felswand, die sich jenseits der Passstrasse erstreckt, gehört zum Glatten. Irgendwie paradox: ein glatter Berg. Aber mit 2500 Metern Höhe hat der Glatten wohl das Recht, als Berg glatt durchzugehen.

Aus der Ferne höre ich Motorengeräusche: mal lauter, dann leiser, dann wieder lauter. Klang und Lautstärke folgen der mäanderförmig verlaufenden Passtrasse. Offenbar ein Motorradfahrer, der Spass daran hat, sein Können auf der Bergstrecke auszureizen und den Nervenkitzel dabei einzugehen. Auf der Höhe der Passtrasse befindet sich eine kleine Oase: das Klausenpasshotel mit guter Küche und freundlicher Bedienung. Das weiss offenbar der Motorradfahrer, denn das Motorengeräusch verstummt genau auf der Höhe des Hotels. Wie angenehm! Nun lausche ich nur noch dem Surren des seichten Windes und dem Zwitschern der Vögel. Ein Moment wie dieser wirkt auf mich zeitlos – ich spüre die Zeit nicht mehr. Ich habe mir keine Ziele gesetzt. Heute lasse ich mich einfach treiben. Mal sehen, was geschieht.

Weg in eine geheimnisvolle Bergwelt

Der schmale Wanderweg schlängelt sich über eine Hochebene und führt mich immer näher in die alpine Bergwelt. Wie ein Bollwerk erstreckt sich vor mir eine Kette schneebedeckter Berge der Glarner Alpen. Sie alle sind deutlich über 3000 Meter hoch.

Zwischen den Gipfeln von Clariden und Chammliberg erkenne ich eine weisse Schneezunge – offenbar der Ausläufer eines Gletschers. Meine Kamera liefert das vergrösserte Bild einer faszinierenden Eislandschaft. Es ist zu erkennen, dass viele Schichten aus Schnee den Gletscher bilden. An der unterer Grenzschicht tritt eisiges Wasser aus und fällt über schroffe Felsen hinab ins Tal.

Dieser Gletscher ist ein Zeuge der letzten Eiszeit. Vermutlich war er einst so gewaltig, dass er bis ins Tal hinunterreichte. Die geschliffenen Felsen auf der Hochebene, durch die ich gerade wandere, liefern den Beweis dafür.

Nahezu alle Alpengletscher werden von Jahr zu Jahr kleiner. Sie schmelzen infolge der Erderwärmung, die wir Menschen mit verursachen. „Gletscher vorm Aussterben bedroht! – so wie die Eisbären“, geht es mir durch den Kopf. Das darf doch eigentlich nicht geschehen, denn diese wunderbare Bergwelt ist damit gefährdet und so vieles, was da dranhängt – Natur, Wasserwirtschaft, Landwirtschaft und nicht zuletzt wir Menschen. Darum sollten wir sorgsam mit unserer Umwelt umgehen. Wie könnte das gehen? Ich denke, es würde uns gut stehen, wenn wir in allem, was wir tun, uns etwas bescheidener verhielten. Das wäre ein grosser Fortschritt für die Umwelt, und vermutlich käme mit mehr Bescheidenheit sogar mehr Glück. Wir wüssten mehr zu schätzen, was wir haben.

Natur geniessen

Meinen Gedanken lasse ich freien Lauf. Und es ist verrückt: jetzt spüre ich erst, wie vollgepackt mein Kopf mit Eindrücken aus der letzten Woche ist. Gedanken drängen nach vorne ins Bewusstsein und verschwinden dann auch schon wieder, um Platz zu machen für die nächsten Gedanken. Erst mit der Zeit lässt das Gedrängel im Kopf nach, und ich finde das richtig erholsam. Es ist schön, die Leere zu geniessen. Immer wieder zieht mich die Landschaft in den Bann – als wollte sie mir klar machen, dass das Leben mehr zu bieten hat, als mir oft bewusst ist. Landschaft und Natur schafften Distanz, Klarheit und Bewusstsein. Und sie sind eine Quelle für Inspiration und kreative Impulse.

Lichtstrahlen durchdringen die Berglandschaft

Sonnenstrahlen durchdringen die Berglandschaft im schrägen Winkel. Oberflächenformen erscheinen jetzt überdeutlich durch die Wirkung der langen Schatten. Der richtige Einstrahlwinkel bringt Dinge zum Vorschein, die zuvor kaum sichtbar waren. Vergleichbar ist es mit meinen Gedanken. Erst an diesem ungewöhnlichen Ort gewinnen sie an Schärfe.

Ich wandere weiter auf dem schmalen Pfad durch Geröll. Die weissroten Wegmarkierungen helfen bei der Orientierung. Unter meinen Schuhen knirschen die Steine. Der Weg schlängelt sich entlang eines Berghangs. Im Schatten wird es sofort etwas ungemütlich. Die Temperaturen gehen offenbar schon herunter. Irgendwann habe ich den Berghang umrundet. Hinter einem grossen Felsklotz entdecke ich eine Sitzbank. Hier scheint mir Sonne wieder ins Gesicht. Wie angenehm!

Ich knabbere ein paar Kekse und nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Die Sonne nähert sich unaufhaltsam der Bergkuppe. Schon bald wird sie verschwinden und Schatten hinterlassen. Diese letzten Minuten möchte ich aufmerksam verfolgen und geniessen.

Ich nehme Platz und tue dass, was ich schon die ganze Zeit tue: gucken, stauen – Natur wirken lassen. Und wie sie wirkt: die Abendsonne taucht die Landschaft in warmes Licht. Die Farben vermitteln ein wohliges Gefühl.

Die Sonne verabschiedet sich

Die Sonne verabschiedet sich nicht ohne großes Drama. Für einen Moment erhalten die Berge Konturen und Farben, wie ich sie nur selten gesehen habe. Die Felswände des Glatten erscheinen in rostroten Tönen und erinnern an einen amerikanischen Canyon.

Von meinem Hochsitz aus beobachte ich, wie der Schatten über das Land zieht und stetig wächst. Die warmen Sonnenstrahlen verlassen mein Gesicht. Es wird kühl und dunkler. Der Schatten zieht weiter, um schliesslich auch die Berge hinter mir zu erobern.

Die Dunkelheit kommt in den Bergen schneller als man vielleicht meint. Ich brauche sicher über eine Stunde für den Rückweg. So breche auf und gehe gemütlich den gleichen Pfad zurück, den ich gekommen bin. Es bietet sich nochmals ein grandioser Blick auf die Glarner Alpen.

Das Schärhorn glüht
Das Schärhorn glüht

Angestrahlt durch die rote Abendsonne, wirkt der Gipfel des Schärhorns wie der Einstieg zur Hölle. Ich mag die Dunkelheit in den Bergen. Sie verstärkt die Phantasie, was sicherlich auch erklärt, warum es in der Schweizer Bergwelt viele Mythen, Legenden und Spukgeschichten gibt. Nicht weit von hier, auf dem Claridengletscher, soll angeblich gegen Mitternacht ein leises Klagen aus den Gletscherspalten zu hören sein. Und dann soll eine Kuh über das Gletschereis laufen. Die Geisterkuh wurde angeblich das Opfer eines verantwortungslosen Senners, der deshalb einst mitsamt seiner Alp verflucht wurde. Das ist mal richtig Swiss Mystery – „Wer hat’s erfunden?!“

Sind es die Schweizer Spukgeschichten oder ist es einfach nur die Tatsache, dass ich den Pfad nicht mehr so leicht erkennen kann? Egal, ich erhöhe meine Schrittgeschwindigkeit. Immer wieder gehen meine Blicke zurück. Die Bergwelt wirkt wie ein Scherenschnitt vor dem wundervollen Farbverlauf, den die längst untergegangene Sonne in der Atmosphäre erzeugt. Beim genauen Hinsehen fällt mir auf, wie ganz zarte Sonnenstrahlen in den Himmel ragen. Indem die Sonne aus tiefer Position Berge unterschiedlicher Höhe von hinten anstrahlt, überträgt sich das Schattenspiel der Berge offenbar auf das Licht, das in der Atmosphäre gestreut wird.

Im fahlen Restlicht suche ich nach dem Weg. Da ist eine Markierung. Meine Augen haben sich gut an die Dunkelheit angepasst. Dann kann‘s ja weitergehen. Nach einiger Zeit ist die Passstrasse wieder sichtbar. Ich kann die Scheinwerfer eines einsamen Fahrzeugs ausmachen, das langsam talwärts fährt. Ich bleibe immer wieder stehen und schaue mich um. Die Farben am Horizont haben sich zu einem Gelborange gewandelt, das sich sehr bald mit dem Dunkelblau der anbrechenden Nacht vermengt.

Über mir funkeln die Sterne. Ich erkenne das Sommerdreieck mit den Sternen Deneb im Sternbild Schwan, Wega in der Leier und Altair im Adler. Diese Konstellation erinnert mich an die warmen Sommernächte in der Ferienzeit. Bald verabschiedet sich das Sommerdreieck vom Nachthimmel und macht Platz für die Herbststernbilder.

Was ist das? Meine Augen haben ein sonderbares Flugobjekt entdeckt! Es bewegt sich auf einer geraden Route von Nordwest in Richtung Südost. Definitiv kein gewöhnliches Flugzeug, denn es hat keine Warnlichter. Es gibt nur ein Flugobjekt, das am Nachthimmel so hell erscheint, keine Warnlichter hat und gelegentlich sichtbar ist: die Internationale Raumstation ISS.

Die Raumstation fliegt in etwa 400 Kilometern Höhe über der Erde. Ich kann sie von hier unten sehen, da das Sonnenlicht von den Solarflügeln der Station reflektiert wird. An Bord befinden sich derzeit sechs Astronauten. Ich frage mich, was sie wohl gerade machen. Vielleicht schauen sie herunter und sehen Zürich, München oder Wien. Das Flugobjekt hat es eilig. Es dauert nicht lange, bis es hinter einer Bergkuppe verschwindet.

Schliesslich erreiche ich den Parkplatz. Die Besucher sind längst verschwunden. Ich halte inne und sage: „Was für ein schöner Tag!“ Ich fühle mich leicht, fröhlich und beflügelt, weil ich hier draussen in der Natur, in dieser wunderbaren, geheimnisvollen Bergwelt war.
Einige Tage später, am 26. Oktober 2017, lese ich in der Zeitung: „Papst Franziskus ruft ISS-Astronauten an“. Was für ein Zufall. Offenbar hat sich der Papst auch gefragt, was die da oben gerade machen und wie sich ihre Sicht auf die Welt verändert hat. Die Astronauten berichteten von ihren Eindrücken – dass sie aus dem Orbit einen Planeten ohne Grenzen und ohne Konflikte sehen, einen besonderen Planeten, der den Menschen einen wunderbare Lebensraum bietet – aber auch einen Planeten, der verletzlich ist. Der Papst hört aufmerksam zu und greift den Punkt auf. Franziskus ist besorgt über den Zustand der Erde und die Umwelt durch die menschliche Einwirkung. Und er fügt hinzu: „Die Astronomie lässt uns über das Universum und seine endlosen Horizonte nachdenken, und stellt uns die wichtigen Fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen.“

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