Winterzauber am Hohen Kasten

Winterzauber am Hohen Kasten

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Blick ins Tal bei Schwende umringt von schneebedeckten Bergen
Blick ins Tal bei Schwende umringt von schneebedeckten Bergen

Wie Puderzucker verteilt sich der erste Schnee über die Bergkuppen des Alpstein im Appenzellerland. Ich liebe diese Region in der Ostschweiz. Die besondere Komposition aus hügeliger, zum Teil gebirgiger Landschaft mit den verstreuten Häuschen zwischen grünen Wiesen hat etwas Liebliches. Aber das Beste ist: überall dort, wo eine Schweizer Fahne weht, erfährt der Besucher die besondere Gastlichkeit der Appenzeller – hier gibt es Gemütlichkeit und sehr leckeres Essen.

Kurz vor diesem Sonntag des 22. November 2020, als es am Bodensee noch spätherbstlich war, fiel im Appenzellerland der erste Schnee. Winter trifft auf Herbst – die farblichen Kontraste der beiden Jahreszeiten sind faszinierend. Die Luft in den Bergen ist kalt und der Himmel entsprechend klar und tief blau. Mein Blick schweift über ein Tal mit dem kleinen Dorf Schwende, das sich unterhalb der Ebenalp mit ihren prähistorischen Höhlen befindet. In diesen Höhlen wurden zu Beginn der 19. Jahrhunderts Skelette von Höhlenbären und steinzeitliche Werkzeuge gefunden.

Es ist eine Landschaft zum Verlieben und Träumen. Einige Menschen hier träumen vom Fliegen. Und so erklimmen sie mit ihren Gleitschirmen die Ebenalp per Seilbahn und heben ab in die Lüfte. Dank besonderer thermischer Bedingungen können sie wie ein Adler stundenlang über die Landschaft gleiten und die Aussicht auf die schroffe Bergwelt genießen. Im Hintergrund thront der schneebedeckte Säntis. Mit gut 2500 Metern ist er der höchste Berg im Alpsteingebirge.

Der Säntis
Der Säntis

Mich zieht es auch in die Höhe, allerdings auf Wanderstiefeln. Ich mag es, festen Boden unter den Füssen zu behalten. Das schafft eine starke Verbindung mit Erde und Natur. Ausgangspunkt der Wanderung ist der kleine Ort Brülisau am Fuße des Hohen Kasten. Vom Parkplatz führt ein Wanderweg hoch in Richtung Kasten. Mein Rucksack ist mit etwas Essen und einer Wasserflasche gefüllt. Die Wanderkarte befindet sich griffbereit in der Hosentasche. Es geht los.

Blick ins Tal auf Brülisau
Blick ins Tal auf Brülisau

Der Weg führt an einigen traditionellen Bauernhäusern im Appenzeller Stil vorbei in ein Wäldchen. Ab hier geht es auf einem schmalen Pfad steil bergauf. Die Kälte wandelt sich in Hitze – ich schwitze. Doch die Mühe wird stets durch den wunderbaren Blick auf das Land belohnt. Die Farben variieren vom Grün im Tal über beige-bräunliche Töne der Feuchtgebiete und Laubwälder bis hin zu den kalten Blautönen des Winters in den Höhenlagen.

Fantasiewesen am Himmel

Es ist ein besonderer Tag. Der Wind spielt mit einer Zirruswolke am Himmel und formt sie zu einem Wesen mit gewaltigen Schwingen. Die Fantasie geht mit mir durch. Die Berge schaffen diese Reize.

Berggasthaus Ruhesitz lädt ein zum Verweilen
Berggasthaus Ruhesitz lädt ein zum Verweilen

Der Wanderweg führt inzwischen über Schnee, hinauf zu einem Höhenweg, wo die Appenzeller Gastlichkeit bereits wartet. Hier weht eine Schweizer Fahne. Das Berggasthaus Ruhesitz hat selbst in dieser späten Jahreszeit noch geöffnet. Darauf habe ich gehofft. Gehen wir also hinein!

Treicheln mit verzierten Schnallen

Ich setze meine Hygienemaske auf, nehme an einem freien Tisch Platz und notiere auf einem Zettel meine Kontaktdaten. Dann darf ich die Maske wieder abnehmen. In Corona-Zeiten gelten besondere Schutzbestimmungen, auch hier in den Bergen. Die meisten Gäste befinden sich auf der Terrasse und genießen die Wärme der Sonne. Ich mag hingegen die Innendekoration mit enormen Appenzeller Kuhglocken, den sogenannten Treicheln mit klassischen Schnallen.

Appenzeller Gemütlichkeit

„Es Kafi ond es Gipfeli muess ich am Morge ha,“ sagen die meisten Schweizer aus gutem Grund. Das Gipfeli, zu Deutsch „Hörnchen“, ist sehr lecker, und ein guter Kaffee dazu sind ein Stück Kultur, der ich mich gerne anschließe. „Es Kafili und es Gipfeli“, sage ich der jungen Bedienung, als sie mich fragt, was ich denn gerne hätte.

Es Kafi ond es Nussgipfeli

Man bekommt schon Appetit beim Anblick. Der Blätterteig des frischen Gebäcks knistert beim sanften Zubeißen. Die Nussfüllung vollendet den Genuss. Lecker!

Während ich den Moment genieße, versuche ich den Text auf dem kleinen Zuckerbeutel vor mir zu entschlüsseln: „en Lätsch wie sibe Taag Regewette.“ Sieben Tage Regenwetter, verstehe ich, aber „en Lätsch?“. Aha, ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter! Der Dialekt ist schon speziell, aber sympathisch und witzig.

Zurück auf dem Wanderweg

Frisch gestärkt setze ich meine Wanderung fort. Der Weg verläuft nun angenehm auf einer Hochebene und führt tiefer in die bezaubernde Welt des Alpsteingebirges. Ich mag die vielfältigen Formen der Berge und die ungewöhnlichen Wolkenformationen, die sich zusehends am Himmel bilden.

Spirituelle Pause

Ich erreiche einen Ort zum Innehalten. Vor der Kulisse einer faszinierenden Bergwelt steht am Wegesrand auf einem stabilen steinernen Sockel ein Häuschen. Darin befindet sich eine zierliche Marienfigur. Sie trägt ein goldverziertes Gewand und hält ihre Hände zum Gebet.

Marienfigur

An diesem spirituellen Ort kann der Wanderer Ruhe und Kraft schöpfen. Wer möchte, darf hier ein Gebet sprechen oder meditieren. Das ist inspirierend und einfach schön – das spürt jeder, der es ausprobiert. Christliche Bräuche und alte Traditionen werden im Appenzellerland auf besonders reizvolle Weise gelebt. So tragen einige der Berge im Alpstein Namen mit christlicher Bedeutung. Die Reihe markanter Bergzacken, die ich in der Ferne erkennen kann, sind die Chrüzberg – die Kreuzberge. Die Appenzeller haben eine feine Art, ihren Respekt vor der Natur und ihrem Schöpfer auszudrücken. Nicht jeder mag den Glauben teilen, doch alle lieben diese schönen Traditionen.

Der Wind spielt mit den Wolken

Die Kräfte der Natur wirken über meinem Kopf. Zirruswolken kommen auf, die von Winden durchgepustet werden. Zirren sind dünne und faserige Wolken, die hoch oben, in fünf- bis zehntausend Metern Höhe auftreten. Sie kommen von Westen und kündigen eine Wetterverschlechterung an. Doch bis dies geschieht, wird noch einige Zeit vergehen, und es können weitere faszinierende Wolkeneffekte auftreten.

Vom Wind geformte Schneeskulptur

Der Wind schafft nicht nur Formen am Himmel, sondern auch am Boden. Auf einer schneebedeckten Ebene haben Wind und Schmelze faszinierende Schneeskulpturen ausgebildet.

Auf einer weiten Ebene am Sämtisersee scheinen unzählige Kristalle aus dem Boden zu wachsen. Sie glitzern im sanften Sonnenlicht. Doch wer sie einsammeln und mitnehmen möchte, hat Pech. Die Eiskristalle brechen und schmelzen bei Berührung.

Vereinzelte Almhütten säumen den Weg. Während ich durch die zauberhafte Landschaft wandere, malt der Wind neue Wolkenbilder an den Himmel. Ein großer Wirbel bildet sich über dem Alpstein.

In dieser unwirklichen Atmosphäre entsteht auf einmal seitlich des Wideralpstocks ein bunter Schein wie bei einem Regenbogen. Jedoch ist dies kein Bogen, sondern ein Schleier.

Die geheimnisvolle Lichterscheinung ist eine Nebensonne. Sie entsteht durch eine Wolke mit Eiskristallen, die in großer Höhe durch den Wind getragen wird, und einen glücklichen Umstand: die Kristalle erreichen für einen Moment den perfekten Winkel von etwa 22 Grad zur Sonne. Genau in dieser Position entsteht eine Lichtbrechung des Sonnenlichts in meine Blickrichtung und leuchtet bunt wie ein Regenbogen. Das Spektakel dauert vielleicht eine Minute, dann ist es verschwunden. 

Zirren wie Flammen bei Sonnenuntergang

Als die Sonne hinter den Bergkamm des Altmannmassivs verschwindet, erscheinen beleuchtete Zirren wie Flammen am Himmel. Die besondere Atmosphäre und das Spektakel am Himmel mit immer neuen Überraschungen lässt meiner Fantasie freien Lauf.

Magisches Licht über dem Bergen

Nur wenige Minuten später kommt es zum Höhepunkt. Die hohen Wolken beginnen sanft in Gelb, Orange und rötlichen Tönen zu glimmen. Die Eispartikel brechen das Licht und schaffen ein einzigartiges Ambiente in der winterlichen Bergwelt, die zunehmend in die Dunkelheit eintaucht.

Kapelle Maria Heimsuchung am Plattenbödeli
Kapelle Maria Heimsuchung am Plattenbödeli

Die Atmosphäre an diesem winterlichen Abend am Alpstein birgt eine einzigartige Schönheit und Kraft – es ist schwer, sie in Bildern festzuhalten. Emotionen, die sie auslöst, finden im Inneren statt und mögen bei jedem anders sein. Die Menschen im Kanton Appenzell Innerrhoden wissen schon lange, dass dieser Ort etwas ganz Besonderes ist. Darum haben sie im Jahr 1931 am Plattenbödeli eine Kapelle errichtet und unter den Schutz der heiligen Maria gestellt. Entworfen und gebaut wurde die Kapelle von dem Schweizer Kunstmaler Johannes Hugentobler, der Appenzeller Kapellen, Kirchen und Häuser bemalte. Die Kapelle ist auch heute geöffnet und erlaubt dem Wanderer eine spirituelle Pause. Ich genieße den schönen Augenblick.

Roter Schleier über dem Alpsteingebirge

Der Rückweg führt mich durch den Wald und schließlich über eine Wiese, an einem verlassenen Bauernhaus vorbei. Holzpfähle markieren den Wanderweg. Es geht wieder bergauf. Auf einer Anhöhe bemerke ich, wie sich der Schnee rötlich färbt. Ich drehe mich um und staune. Ein roter Schleier zieht über das Alpsteingebirge – die untergehende Sonne beleuchtet aufziehende Wolken in kräftigem Orangerot. Das schneebedeckte Land erwidert den Schein in sanften Rosatönen.

An diesem Abend findet die Natur Gefallen an Farben und Formen und zeigt ihr reichhaltiges Repertoire. Sie tut dies scheinbar zum eigenen Gefallen, ohne großes Publikum. Ich habe Glück, dass ich in diesem Moment hier sein darf und meine Kamera das Naturschauspiel aufzeichnet. Impressionisten hätten ihre helle Freude an diesem Motiv.

Glutrote Wolken über der Zahme Gocht

Mit der schwindenden Sonne nimmt der Farbkontrast dramatisch zu. Die ziehenden Wolken leuchten nun Glutrot über der Zahme Gocht, deren stille Bergwelt von der Dunkelheit eingeholt wird.

So schön diese Ansicht auch ist, mit dem Untergang der Sonne ist es kalt geworden. Und so kommt mir eine Idee – eine sehr gute Idee! Es gibt nichts Schöneres, als noch einzukehren und den Abend in der warmen Stube mit einem leckeren Essen abzuschließen.

Der Berggasthof hat noch geöffnet
Der Berggasthof hat noch geöffnet

Hurra, im Berggasthof Ruhesitz brennt noch Licht! Ich trete ein, wieder maskiert. Die Hygienemaske macht jedoch klar, dass dies kein Überfall ist. Der Wirt, ebenfalls mit Hygienemaske, kommt auf mich zu und bietet mir einen Platz an einem Einzeltisch an. Eine Gruppe Einheimischer unterhält sich gut gelaunt an zwei Nachbartischen. Appenzeller Musik im Hintergrund.

Was ich gerne essen möchte, fragt mich der Wirt. Zur späten Stunde gibt es „Soppä ond Woscht“. Beliebt ist die Appenzeller Gerstensuppe – eine warme Suppe ist nach der Wanderung in der Kälte genau das Richtige! Davon hat’s auch noch genug, meint der Wirt lachend und verschwindet in die Küche. Langsam taue ich auf in der warmen Stube.

Zunächst ein Appenzeller Quöllfrisch dunkel! Der erste Schluck ist bekanntlich immer der Beste. Ich atme tief durch. Schon kommt der Koch und serviert die Suppe. Das Rezept der Suppe ist offenbar ähnlich gut behütet wie das des berühmten Appenzeller Käses. Doch so viel darf verraten werden: es sind verschiedene Wintergemüse wie Rüebli, Sellerie, Lauch und Wirz darin. Na, dann – en Guete!

Der Blick durch die Fenster der Stube nach draußen erinnert mich daran, dass die Nacht eintritt. Es ist Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ich ziehe meine Jacke an und darüber den Rucksack. Der Wirt kommt, ich zahle und verabschiede mich: „Ade und bis zum nächsten Mal!“

Appenzeller Gestensuppe – einfach lecker!

Vor der Tür empfängt mich die Nacht. Doch der Mond ist hinter dem Hohen Kasten aufgegangen und beleuchtet den Schnee. Nach wenigen Minuten kann ich Fußstapfen darin erkennen, die den Wanderweg andeuten. Es ist stellenweise glatt und mein Schuhprofil nicht mehr das Beste. So wird der Rückweg zur Herausforderung. Neue Wanderschuhe wären ein gutes Weihnachtsgeschenk, denke ich mir.

Nach einiger Zeit halte ich an und schaue zurück in die winterliche Bergwelt. Die klare Mondnacht hat alles in ein tiefes Dunkelblau gekleidet. Der Schnee glänzt wie Samt im Mondlicht. Es ist völlig still. In der Ferne erkenne ich die Lichter des Gasthauses. Dahinter, unmittelbar über der Felswand, geht der Mars auf. Unser roter Nachbarplant befindet sich derzeit nahe der Erde und leuchtet daher besonders hell. Rechts davon ruht der Hohe Kasten. Das Licht seines Sendemasts setzt einen roten Punkt ins Dunkelblau. Daneben leuchtet der Mond durch Fetzen kleiner Kristallwolken. Diese herrliche nächtliche Kulisse bei Mondschein lässt Dich alles vergessen – Du bist ein Teil dieser großartigen Natur – die Berge im Winter verzaubern.

Winternacht

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