Es ist berühmt für seinen wildromantischen Charme, seine Vielfalt an Bergmotiven mit Seen, Wasserfällen und Wildtieren – das Maderanertal bei Amsteg im Kanton Uri. Ich hatte schon viel von diesem Tal gehört und war entsprechend neugierig. Am 21. September 2019 ist es soweit. Die Sonne lacht, und die Temperaturen sind angenehm – der passende Tag für ein kleines Abenteuer. Mehrere Brötli, eine Flasche Wasser und die Kamera kommen in den Rucksack. Dann mache mich mit meinem Auto auf den Weg. Es geht zunächst nach Altdorf. Von dort folge ich der Landstraße in Richtung Andermatt. Nach etwa 20 Kilometern erreiche ich Amsteg, ein Dorf, das vor allem durch einen gewaltigen Viadukt auffällt. Mit etwa 130 Metern Länge ist die Chälstenbachbrücke die längste Eisenbahnbrücke auf der Nordrampe der Gotthardbahn.
Die Brücke ist zugleich die Pforte ins Maderanertal. Eine schmale Straße führt in Serpentinen bergauf. Für zwei Fahrzeuge nebeneinander ist meistens nicht genügend Platz. Parkbuchten dienen dazu, entgegenkommenden Autos auszuweichen. An der Luftseilbahn Golzern angekommen, parke ich mein Auto und setze meinen Weg mit einer kleinen Gruppe Wanderer in einer Gondel fort. Sie bringt uns zu einem Hochplateau auf etwa 1400 Meter Höhe.
Rucksack auf, und los geht’s. Der Wanderweg schlängelt sich durch grüne Bergwiesen, in denen trotz der späten Jahreszeit Blumen blühen. Ich passiere einige schöne alte Berghüsli der Alp Golzern und erreiche schließlich das Bijou der Hochebene: den Glozernsee. Der Bergsee ist von Wald umgeben und leuchtet einladend in grünen und blauen Tönen. Das Wasser ist immer noch recht warm. Über die Baumkronen ragt der begrünte Bergrücken des Maderanertals. In der Ferne ruht magisch der Gross Düssi, ein Dreitausender.
Das spätsommerliche Licht durchflutet die hohen Gräser am See, die nun in den Herbsttönen Gelb, Orange, Braun und Grün leuchten – warme Farben, die ein wohliges Gefühl verleihen. Ich halte für eine Weile inne und genieße den farbenfrohen Moment.
Ein schmaler Wanderpfad führt durch den Wald entlang des Sees. Es geht sportlich rauf und runter, im wahrsten Sinne über Stock und Stein. Der Boden ist stellenweise feucht und daher glitschig. Dennoch ist der Weg nicht schwer zu meistern.
Die Büsche am Wegesrand tragen Früchte. Heidelbeeren kennt sicherlich jeder. Sie sind lecker und gesund, denn sie haben entzündungshemmende Eigenschaften. In unmittelbarer Nachbarschaft der Heidelbeeren befinden sich kugelrunde rote Beeren, etwa so groß, wie die Heidelbeeren. Ihr Geschmack ist herb und ein wenig süß. Die hübschen roten Beeren sind Preiselbeeren und mit der Heidelbeere verwandt. Man kann sie roh essen. Besonders lecker sind sie jedoch als Marmelade.
Der Weg führt zu einer Moorlandschaft, mit einer Landzunge aus goldgelben Gräsern, die den umliegenden Wald verdrängt hat. Hier ist es ständig feucht. Unter der Oberfläche befindet sich offenbar eine wasserdichte Schicht, so dass der Grundwasserspiegel hoch liegt. Nur spezialisierte Pflanzen können hier überleben. Moorlandschaften sind in der Schweiz recht selten und daher geschützt.
Als ich die Rückseite des Sees erreiche, bietet sich mir ein wunderbarer Ausblick. Ein stilles Gewässer zwischen umliegenden saftig grünen Wiesen, flankiert von bewaldeten Hängen, dahinter in der Ferne die alpine Bergwelt.
Am See gibt es genügend Sitzgelegenheiten. Ich lege meinen Rucksack auf einen Felsen und nehme dort Platz. Ein kleines Picknick ist jetzt genau richtig. Etwas Brot und Bergkäse, dazu einen guten Schluck Mineralwasser. Ich beobachte einige Besucher, die sich am See sonnen oder darin schwimmen. Ein sanfter, warmer Wind weht mir ins Gesicht. Zeit spielt keine Rolle.
Irgendwann reizt es mich erneut. Ich möchte diese interessante Gegend weiter erkunden und mehr von den Bergen sehen. Ein Wegweiser zeigt in Richtung Windgällenhütte, benannt nach dem kleinen und dem großen Windgällen, Berge knapp unter bzw. über 3000 Meter hoch. Dort oben ist alpines Wandern angesagt. Das habe ich zwar nicht vor, doch ich hoffe, einen Eindruck von dieser faszinierenden Bergwelt zu bekommen. So folge ich dem Wegweiser.
Der Pfad führt treppenartig nach oben. Ich achte auf meinen sicheren Tritt. Je höher ich gelange, umso besser die Aussicht. Und da ist er wieder, dieser Effekt: an einem Tag wie heute übt die Bergwelt eine magische Anziehungskraft aus. Du willst immer weiter, denn die Natur belohnt Dich an nahezu jeder Ecke mit einer neuen faszinierenden Aussicht.
Beim Blick ins Tal schätze ich, dass ich gut zweihundert Höhenmeter zurückgelegt habe. Der Golzernsee wirkt wie ein natürlicher Planspiegel. Dahinter der Bristen, auch ein Dreitausender. Wie weit es noch bis zur Windgällenhütte ist, frage ich zwei Wanderer, die mir begegnen. Es ist 16 Uhr und schon etwas spät. Die beiden meinen, es könnte noch 2 Stunden dauern. Ob ich dort eine Unterkunft hätte, fragen sie zurück. Leider nein. Und darum ist die Zeit für einen Besuch der Hütte zu knapp. Die Wanderer empfehlen mir, noch etwas weiter zu gehen, etwa eine halbe Stunde. Es würde sich lohnen. Also gut, soviel Zeit habe ich in jedem Fall. Ich bedanke mich, und ziehe weiter bergauf.
Der Bewuchs hat sich auf kleine Tannen und Büsche reduziert. Wanderer trifft man nur noch selten. Mit der zunehmenden Stille gewinnt die Bergwelt weiter an Reiz. Ein sanftes Rauschen von entfernten Wasserfällen liegt in der Luft. Ich betrachte immer wieder die verschiedenen Pflanzen am Wegesrand und die Formen moosbewachsener Felsen. Beim Weg aufwärts kann man leicht außer Atem geraten. Darum ist es wichtig, dass Atmung und Schritte Hand in Hand gehen. So bleibt es erträglich, und man gelangt irgendwann in einen meditativen Zustand – auch diese Form der Entschleunigung ist Balsam für die Seele.
Vor mir erscheint eine Kuppe. Darauf entdecke ich einen Steinmann, der einen Aussichtspunkt markiert. Davon hatten die zwei Wanderer berichtet und nicht zu viel versprochen. Die Aussicht ist umwerfend. Das Panorama erstreckt über eine faszinierende Bergwelt der Innerschweiz mit mehreren Dreitausendern.
Inmitten der schroffen Felslandschaft erkenne ich die Windgällenhütte. Eigentlich ist sie nicht weit entfernt, vielleicht 2 Kilometer. Doch der Weg dorthin würde mich sicherlich eine Stunde kosten. Obwohl ich diese Landschaft sehr reizend finde, verzichte ich. Es wird ein anderes Mal geben. Für den Moment mache ich am Steinmann Rast und erkunde dabei die Landschaft.
Von meinem Aussichtspunkt sind einige entfernte Schneezonen mit Gletschern erkennbar. Sie wirken klein und zurückgedrängt. Auch dieses Jahr ist zu warm, und es gibt einmal mehr zu wenig Wasser. Mit dem Schweizer Gletschermessnetz verfolgen Forscher den Einfluss von Niederschlägen und Temperaturen auf den Zustand der hiesigen Gletscher. Kleinen Gletschern geben die Experten kaum noch Chancen. Große Gletscher könnten hingegen durch einen effektiven Klimaschutz noch gerettet werden, meinen die Forscher.
Noch vor gut 100 Jahren waren die Gletscher der Schweiz so mächtig, dass sie zur Gefahr für Menschen werden konnten. Heute scheint es umgekehrt. Bedeutet das Verschwinden der Gletscher, dass der Mensch von den Gletschern nichts mehr zu befürchten hat? Im Gegenteil: mit den Gletschern verschwindet der Permafrost und damit der „Klebstoff“ der Berge. Neue Probleme entstehen: mehr Steinschläge, Felsstürze oder Murenabgänge. Gletscher sind gewaltige natürliche Süßwasserspeicher. Gehen sie in den Alpen verloren, hat das Folgen für den Wasserhalthalt in Europa.
Ich schaue mich um – die Natur des Maderanertals mit ihren bewaldeten Bergfalten, den Wasserfällen und Bächen ist einfach umwerfend. Es gibt viel zu verlieren, sollten wir uns nicht genügend um den Schutz von Klima und Umwelt kümmern. Umgekehrt können wir viel gewinnen, wenn wir uns in Bewegung setzen und handeln. In Gedanken versunken verweile ich an diesem magischen Ort.
Es wird Zeit umzukehren. Die Sonne senkt sich, und ich habe noch einen längeren Rückweg vor mir. In dem sich ändernden Licht wirkt die Bergwelt wie in einem Bilderbuch. Der Weg führt wieder hinein in den Wald über Felsen und Wiesen. Schließlich erreiche ich den Golzernsee und dahinter das gleichnamige Berggasthaus. „Nach des Alltags Müh und Hast, sei willkommen lieber Gast!“ So empfängt das schmucke Beizli den müden Wanderer. Große Sonnenterasse mit Seeblick, lese ich auf einem Schild. Nichts wie rein, oder eben raus, auf die schöne Sonnenterasse!
Meine lange Wanderung erfährt am Ende nochmal einen Höhepunkt. Ich bin so richtig hungrig und bestelle beim Wirt Rösti mit Bergkäse und ein großes kühles Bier.
Es ist erstaunlich, wie viele Röstivarianten es in der Schweiz gibt. Diese hier sind kross und mit einem würzigen Bergkäse zubereitet. Dazu ein Eichhof – ein stolzes Bier aus einer stolzen Region, heißt es in der Werbung. Den Stolz der Region habe ich heute erlebt, und nach einem langen Tag ist ein gutes Bier purer Genuss.
Die Sonne geht unter. Ihr tiefgelbes Licht wirft lange Schatten. Sehr bald wird sie hinter den Bergen im Westen untergehen. Es fällt mir schwer loszulassen, ich möchte eigentlich nicht gehen – am Abend dieses wunderschönen Tages im wildromantischen Maderanertal.