Der Komet, der an der Sonne kratze – Teil 2 „Der Weihnachtskomet“

Der Komet, der an der Sonne kratze – Teil 2 „Der Weihnachtskomet“

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22. Dezember 2011. Auf einer Hochebene unweit vom Berg Cerro Paranal in der Atacamawüste, Chile. Die Luft ist glasklar, der Himmel tief blau. Ein schwacher Wind streicht über den braun schimmernden steinigen Boden. Inmitten dieser einsamen Welt schlängelt sich eine schmale geteerte Straße mäanderförmig hinauf zum 2600 Meter hohen Cerro Paranal. Dort thronen die weißen Kuppeln der Europäischen Südsternwarte ESO.

Paranal mit Observatorium – Credit ESO
Paranal mit Observatorium – Credit ESO

Plötzlich durchzieht ein surrendes Geräusch die Weite der Landschaft, zunächst nur leise, dann gewinnt es an Lautstärke. Ein roter Allradkombi folgt dem Mäander langsam bergabwärts bis zum Plateau und biegt dann vorsichtig ins Gelände ein. Der Schotter knirscht unter den arretierten Reifen, bis das Fahrzeug zum Stehen kommt. Staub wird aufgewirbelt. Dann verstummt der Motor. Die Fahrertür geht auf, ein schlanker Mann steigt aus – schmales Gesicht, dunkle Haare, kurzgeschnittener Kinn- und Oberlippenbart, sonnengebräunte Haut. Über seiner verwaschenen Jeans hängt locker ein blaurot gestreifter Sweater. Stéphane Guisard öffnet die Heckklappe seines Fahrzeugs und beginnt damit, technisches Gerät auszuladen. Er hat genug Zeit. In aller Ruhe baut er auf: erst das Dreibeinstativ mit der schweren Montierung, darauf das Teleskop und schließlich die Kameras.

Stephane Guisard mit Teleskop
Stephane Guisard mit Teleskop

Stéphane blickt zum Cerro Paranal. Weit und breit niemand zu sehen. Es ist kaum zu glauben, doch nur 12 Kilometer hinter dem Berg beginnt bereits das Meer. Die Atacamawüste ist erstreckt sich entlang des pazifischen Ozeans. Sie liegt im östlichen Knick der südamerikanischen Landmasse, im Windschatten des Andengebirges. Hier auf über 2000 Metern Höhe ist die Luft sehr trocken. Eine besondere Wetterlage sorgt dafür, dass während des ganzen Jahres fast kein Regen fällt. Die Temperaturen schwanken zwischen 30 Grad am Tag und minus 10 Grad in der Nacht. Nicht besonders angenehm, doch die Verhältnisse hier sind ideal für Astronomen. Die europäische Südsternwarte ESO hat gleich mehrere große Sternwarten auf den Bergen in der Atacamawüste errichtet, weit entfernt von dem Trubel und störenden Licht großer Städte.

Landkarte Cerro Paranal Observatorium ESO

Stéphane Guisard arbeitet seit über 10 Jahren als Optikingenieur am Very Large Telecope, dem Flaggschiff des Cerro Paranal Observatoriums. Es ist eines der modernsten und größten Teleskope weltweit. Stéphane ist Franzose und stammt aus Lothringen, der Grenzregion zu Deutschland. Seit seiner Jugend begeistert ihn die Astronomie. Heute hat er sein Hobby zum Beruf gemacht, und ist ganz nebenbei ein exzellenter Astrofotograf. Stéphane hat die Meldungen über den Kometen Lovejoy aufmerksam verfolgt. Lovejoy – „Liebesglück“ – ein ungewöhnlicher Name, aber schön. Vielleicht wird Lovejoy ja ein ebenso schöner Weihnachtskomet. Stéphane will ihn aufspüren und fotografieren, und zwar dort, wo die Verhältnisse am besten sind: hier in der Atacamawüste.

Paranal am Abend – Credit ESO-S.-Brunier
Paranal am Abend – Credit ESO-S.-Brunier

Die Sonne hat sich gesenkt und wird bald die Wolkendecke berühren, die über dem Pazifik ausgebreitet liegt. Das sanfte Licht der Abendsonne tränkt die steinige Landschaft in eine rostrote Farbe und sorgt so für Kontrast zum tiefblauen Himmel. Es herrscht absolute Stille. Indem die Sonne tiefer sinkt, spielt auch der Horizont virtuos mit seiner Farbpalette in Gelb-, Orange- und Rottönen. Sterne werden sichtbar.

Grüner Blitz – Credit ESO Huedepohl
Grüner Blitz – Credit ESO Huedepohl

Kaum ist die Sonne hinter der Wolkenschicht über dem Pazifik untergetaucht, greift Stéphane zum Fernglas und blickt gespannt in Richtung Sonnenuntergang. Da ist er, der „Green Flash“ – der „grüne Blitz“. Nur in glasklarer Luft entsteht dieses seltene Naturphänomen. Die grünen Lichtanteile der Sonne werden in der Erdatmosphäre stärker gebrochen als gelbe oder rote und so gewissermaßen aussortiert. Bei günstigen Bedingungen wird nur das grüne Licht der Sonne an Luftschichten reflektiert. Dann blitzt es grün auf. Der Effekt dauert nur einige Sekunden. Und „schwupp“, dann ist das Schauspiel auch schon vorbei.

Noch völlig angetan von dem Farbenspiel spürt Stéphane auf einmal, dass es ihn fröstelt. Die Temperatur hat empfindlich abgenommen. Er geht zum Auto, öffnet die Tür und zieht eine dicke Daunenjacke von der Rückbank hervor. Er schlüpft hinein und bindet sich einen Schal um. Gut eingepackt fühlt er sich nun gerüstet für eine kalte Nacht. Stéphane geht zum Teleskop und richtet es mitsamt den Kameras nach Osten aus. Das Kamerabild zeigt am unteren Rand die Bergrücken der Anden und darüber ein weites Himmelsareal. Dort soll der Komet in den frühen Morgenstunden aufgehen. Das skizzieren die Sternkarten mit der vorausberechneten Position von Komet Lovejoy.

Paranal nach Sonnenuntergang
Paranal nach Sonnenuntergang

Die Nacht bricht an. Immer mehr Sterne glitzern am Himmel. Auf dem Hochplateau regt sich immer noch kein Mucks. Mit der Taschenlampe prüft Stéphane ein letztes Mal die Kameras: alles klar. Er drückt auf den Auslöser. Von nun an werden im Minutentakt Bilder vom östlichen Himmelsareal gemacht. Die Schaltung übernimmt eine Automatik. Jetzt könnte sich Stéphane ins Auto schlafen legen. Aber nein, was für Gedanke – der Sternenhimmel über der Atacama ist ein so grandioses Naturschauspiel. Wer würde sich das entgehen lassen? Außerdem, Astronomen schlafen doch am Tag.

Paranal bei Nacht – Credit ESO J. Girard
Paranal bei Nacht – Credit ESO J. Girard

Inzwischen ist es so finster geworden, dass man seine eigene Hand vor den Augen nicht sieht. Dafür über dem Kopf: ein prachtvoller Nachthimmel, übersät mit tausenden von Sternen. Am Observatorium wird nun fleißig geforscht. Der Laser des Very Large Telecope strahlt zum Himmel. Er erzeugt einen künstlichen Stern, mit dem die Optiken des Teleskops den Verhältnissen der Atmosphäre laufend angepasst werden. Diese geniale Technik verspricht beste Bildqualität für die Astronomen.

Am Horizont zeichnet sich die Silhouette der Anden ab vor dem nebeligen Schleier der Milchstraße. Sie zieht sich über das gesamte Himmelsareal im Blickfeld der Kameras. Die Milchstraße ist eine gewaltige Sternenansammlung, zu der auch unser Sonnensystem gehört – einhunderttausend Lichtjahre im Durchmesser. Das heißt, ein Lichtstrahl braucht einhunderttausend Jahre, um von einem Ende der Milchstraße zum anderen zu gelangen.

Milchstraße über den Anden

Die Milchstraße sieht aus wie ein gewaltiger Diskus. Unser Sonnensystem befindet sich am äußeren Rand dieses Diskus. Daher sehen wir die Milchstraße von der Kante. Am Sternenhimmel erscheint sie als ein breites, diffus leuchtendes Band mit einem verdichteten Kern. In dieser Nacht liegt das Zentrum der Milchstraße unmittelbar über den Anden. Rechts davon funkeln vier Sterne, die ein kleines Kreuz bilden. Es ist das berühmte Kreuz des Südens. Seefahrer wie Ferdinand Magellan nutzten das Sternbild, um sich auf den südlichen Weltmeeren zu orientieren. In dem Sternbild befindet sich ein dunkler Fleck, der sich von der Milchstraße sichtbar abhebt. Astronomen nennen ihn den Kohlensack. Es handelt sich dabei aber um eine gewaltige finstere Gaswolke in den Tiefen des Alls. Sie verdeckt die Sterne der Milchstraße wie ein schwarzer Vorhang.

Während die Stunden vergehen, dreht sich der Sternenhimmel infolge der Erdrotation ein gutes Stück im Uhrzeigersinn um den südlichen Himmelspol. So steht das Band der Milchstraße nun etwa im 60-Grad-Winkel und wird sich weiter aufrichten. Es ist kalt. Stéphane schaut auf das Thermometer – minus 2 Grad. Ein Blick auf die Kameras. Die erledigen präzise ihren Job. Es sind schon viele Bilder im Kasten. Zeit um sich aufzuwärmen. Stéphane geht zum Wagen und holt eine Thermoskanne heraus. Er schraubt am Verschluss. Ein saugendes Geräusch ertönt. Dann strömt Dampf heraus. Ein angenehmer Duft von Kaffee dringt in seine Nase. Er gießt etwas Kaffee in einen Becher und nimmt vorsichtig einen Schluck. Er spürt, wie die heiße Flüssigkeit den Körper wohltuend von innen aufheizt. Stéphane atmet genussvoll und tief durch. Dann schaut er zum Horizont. Müsste der Komet nicht längst zu sehen sein? Er späht in Richtung Anden. Keine Anzeichen auf den ersten Blick. Direkt am Horizont, da könnte etwas sein. Stéphane nimmt das Fernglas zur Hilfe. Jetzt wird es deutlicher: ein zarter, länglicher Lichtkegel hinter den Bergen. Doch da gibt es keine irdische Lichtquelle. Es muss der Komet sein, oder genauer, das Schweifende. Stéphane checkt noch einmal die Kameras. Sie belichten – alles bestens. Ganz langsam schiebt sich der Lichtkegel vertikal hinter der Bergkette hervor. Er gewinnt dabei an Kontur, wird schärfer und intensiver. Eindeutig, es ist der Schweif des Kometen Lovejoy!

Ein Kometenschweif ist im Grunde eine Rauchfahne. Er besteht aus feinen Partikeln, die der Komet beim Vorbeiflug an der Sonne verloren hat, und die vom Sonnenwind über viele Millionen Kilometer vom Kometen weggetragen werden. Die Partikel streuen das einfallende Licht der Sonne. So entsteht ein diffuser Schein, den wir von der Erde aus als leuchtenden Kometenschweif wahrnehmen.

Comet Lovejoy

Die klaren Nächte am Cerro Paranal sind magisch. Die Sterne scheinen wie zum Greifen nah. Hier verlierst Du das Gefühl für Ort und Zeit. Da bist nur Du, und über Dir ist der Weltraum. Es wird Dir klarer, Dich einzuordnen. Du stehst hier auf der Erde – einer Oase inmitten des Alls, dessen Weite endlos erscheint. Der Komet am Horizont ist ein Nachbar im Sonnensystem. Astronomisch gesehen ist er sehr nahe, obwohl 100 Millionen Kilometer entfernt. Eine Raumsonde bräuchte Monate, um dorthin zu gelangen. Die Sterne am Firmament gehören alle zur Milchstraße. Sie sind so weit entfernt, dass kein Raumschiff mit heutiger Technik sie in einem Menschenleben erreichen könnte. Die Erde – unser Zuhause – erscheint da auf einmal einzigartig, verletzlich und schützenswert.

Stéphane taucht aus seinen Gedanken auf. Da steht er nun in voller Pracht über den Anden – der Komet. Sein Kern ist hell und spitz wie ein Pfeil. Von ihm löst sich der Schweif zunächst schmal, dann immer breiter werdend. Er erstreckt sich weit über das Firmament. Morgen ist Heilig Abend. Komet Lovejoy ist ein prächtiger Weihnachtskomet!

Lovejoy vom Paranal – Credit ESO G. Brammer
Lovejoy vom Paranal – Credit ESO G. Brammer

Nach einiger Zeit beginnt der Himmel hinter den Anden leicht bläulich zu schimmern. Die Dämmerung bricht an. Das diffuse Band der Milchstraße verliert an Leuchtkraft. Der Komet wird von der sanft bläulichen Farbe des Morgenhimmels erreicht und taucht ihn immer tiefer darin ein, bis er schließlich am Taghimmel verschwindet. Stéphane stoppt die Automatik der Kameras. Alles ist gut gelaufen. Erschöpft, aber glücklich packt er ein und fährt hoch zum Observatorium. Noch am gleichen Tag verarbeitet Stéphane seine Bilder zu einem Zeitraffervideo. „Ich möchte die Schönheit des Nachthimmels und des Universums mit anderen Menschen teilen“, sagt Stéphane und stellt sein Video ins Internet. In den kommenden Nächten wird Komet Lovejoy zum gefeierten Star am südlichen Sternenhimmel.

Komet Lovejoy von der Raumstation ISS (Video: NASA)

„Es ist das Aufregendste, was ich je im Weltraum erlebt habe“, berichtet Raumfahrtveteran Dan Burbank direkt von der internationalen Raumstation ISS. „Wir sind über Tasmanien geflogen. Wir haben Stürme über dem Südpazifik gesehen, über den Philippinen. Es war Nacht und die Blitze leuchteten überall über dem Meer. Kurz bevor die Sonne aufgeht, ist da dieser ganz dünne blau-violette Saum der beleuchteten Erdatmosphäre. Und dann plötzlich taucht da ein langer, grün-glühender Bogen hinter der Erde auf – etwa 20 Monddurchmesser groß. Ich habe erst gar nicht gewusst, was das ist. Und dann stellt sich heraus, es ist der Komet – Komet Lovejoy. Hier vom Weltraum sieht das anders aus als von der Erde, weil hier keine Atmosphäre ist. Wir haben ein paar sehr schöne Bilder gemacht.“

Seither fliegt der Komet zurück in die Tiefen des Sonnensystems, von wo er so unverhofft aufgetaucht war. Eines Tages wird er wieder kommen, sagen Astronomen. Jedoch sollen bis dahin angeblich 600 Jahre vergehen. Zum Glück werden vorher andere Kometen ihr Schauspiel am Himmel geben, und talentierte Astrofotografen wie Stéphane Guisard werden uns weiter spektakuläre Bilder von der Schönheit des Sternenhimmels am Cerro Paranal senden.

Komet Lovejoy von der Raumstation ISS (Video: NASA)Die Schönheit des Sternenhimmels am Cerro Paranal (Video: ESO)

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