Am Rande des Vierwaldstättersees im Kanton Schwyz erhebt sich mächtig der fast 2000 Meter hohe Fronalpstock. Oft habe ich diesen Berg aus der Froschperspektive bewundert. Im Juni 2018 hüpft der Frosch auf den Gipfel, oder noch besser: er steigt in die steilste Standseilbahn der Welt und fährt ganz bequem hoch bis ins Bergdorf Stoos und von dort weiter mit der Seilbahn zur Gipfelstation. Oben angekommen, erwartet mich eine atemberaubende Aussicht auf den Vierwaldstättersee, der wie ein Fjord in die Bergwelt der Innerschweiz hineinreicht.
Ich blicke in eine durch eiszeitliche Gletscher geprägte Berg- und Seenlandschaft in Türkis-, Blau- und Grüntönen. Von hier oben wirkt die Welt ungewohnt und phantastisch. Ich verschaffe mir Orientierung. Der See reicht rechterseits in die Bucht der Stadt Brunnen. Dem gegenüber, auf einer hohen Landzunge, befindet sich die Gemeinde Seelisberg. Von dort nach links in Richtung Ufer liegt das sonnenbeschienene Rütli, die legendäre Bergwiese, wo angeblich die Urkantone Uri, Schwyz und Nidwalden das Bündnis gegen die Habsburger geschlossen hatten.
Wie Flöhe auf einem Kopf wirken die winzigen Wanderer auf dem gewaltigen Felsen des Fronalpstock. Einige Besucher verweilen gemütlich auf einer Wiese und geniessen die Aussicht, andere machen sich auf den Weg. Es geht zu einem der schönsten Gratwanderwege der Schweiz. Die Tour führt über Huser Stock und Rot Turm zum Klingenstock. Sie erfordert keine besonderen Vorbereitungen, jedoch gutes Schuhwerk, Trittsicherheit und etwas körperliche Fitness.
Auf 2000 Metern Höhe haben wir im Juni immer noch Frühling. Der Weg führt vorbei an saftige Bergwiesen und Moore, die mit Blumen übersäht sind – ein wundervoller Kontrast zur schroffen alpinen Bergwelt im Hintergrund.
Zwei auffällige Berggipfel schauen wie eine Doppelpyramide hinter der Blumenpracht hervor. Es sind die kleine und die große Mythe, das Wahrzeichen der Zentralschweiz. Schon Goethe und Schiller ließen sich von dieser Felsformation inspirieren. Dieser Anblick mit der Blumenwiese hätte ihnen vermutlich einen Vers entlockt.
Die Vielfalt bunter Blumen zieht zahlreiche Schmetterlinge und andere Insekten an. Zu den Blütenbesuchern zählt auch der kleine Fuchs, zu erkennen an den orange-braunen Flügeln mit schwarzen Flecken und einer schwarzblauen Binde am hinteren Flügelrand.
Der schmale Wanderpfad schlängelt sich über den Höhenzug fast immer mit Panoramasicht. Ich erreiche einen kleinen Gipfel. Dort lädt eine Holzbank zu einer kleinen Pause ein. Meine Blicke schweifen über das wunderschöne Land. Ein Schluck Wasser, eine kleine Stärkung, dann leg ich mich für eine Weile hin und lausche der Natur.
Im Frühling sind die Bergwiesen reich an Blumen unterschiedlichster Formen und Farben. Die Blumen schauen mich fragend an: “Was bin ich?” Ich überlege und erinnere mich an das heitere Beruferaten mit Robert Lembke. Dabei mussten Guido, Annette, Hans und Anneliese durch eine geschickte Fragestrategie herausfinden, welchen Beruf der Showgast ausübte. Immer wenn der Showgast eine Frage mit «Nein» beantwortete, steckte Robert Lembke 5 Deutsche Mark – ja so lang ist das her – in das berühmte Sparschwein. Sparschweine kennt heute auch kaum noch jemand – sicherlich ein Grund für so manches Finanzdebakel. Ich schweife ab.
Vor mir, zwischen Steinen, wächst also diese Blume mit filigranen, blaue Blüten. Sie erinnert mich an Kornblumen. “Sind Sie in ganz Europa heimisch?”, beginne ich das Quiz. “Ja”, meint die Blume. “Wachsen Sie nur in den Bergen? ” “Nein. Ich fühle mich auch in Gärten wohl. ” Ok, 5 Franken! “Aber Sie bevorzugen die Berge?” “Ja.” “Kennen Sie die blaue Kornblume?” “Ja.” “Sind Sie miteinander verwandt? “Ja.” “Dann sind Sie womöglich eine – Bergflockenblume?” “Richtig.” Applaus!
Meine Blicke gehen zu dem Höhenzug, über den sich der schmale Wanderweg schlängelt. Der Weg führt über einen Grat zum 1904 Meter hohen Huser Stock. Der Grat macht seinem Namen alle Ehre. Rechts fällt der Hang steil ab ins Riemenstalder Tal, an dessen Ende der Ort Sissikon am Urnersee liegt. Auf der anderen Seite fällt der Hang ab in Richtung Stoos. Weiter dahinter befindet sich die Region Muotathal.
Es liegt noch eine schöne Strecke vor mir. Ich packe meine Sachen in den Rucksack und mache mich auf den Weg. Es geht recht steil bergab über einen kahlen Bergkamm. Frischer Wind weht mir ins Gesicht. Die Sonne scheint angenehm warm. Ich halte ein gemütliches Schritttempo. So kann ich schön in die Natur einzutauchen und sie geniessen.
Auf einem sonnigen Hügel am Wegesrand fällt mir eine prachtvolle Blume auf. Mit ihren feurig-roten Blüten und ihrer extravaganten Form übertrifft sie alles um sich herum. Die Feuer-Lilie blüht kurz und intensiv. Ich komme gerade rechtzeitig, um von dieser wunderschönen Blume ein Foto zu machen.
Und weiter… Der Weg nimmt wieder Steigung an. Es wird immer steiler und geht hoch zum Huser Stock. Jetzt heisst es: tief durchatmen. Der Schweiss rinnt. Auch das gehört zu einer Bergwanderung.
“Hurra, ich habt’s geschafft!” Oben auf dem Huser Stock angekommen, lädt mich eine Sitzbank zu einer kleinen Pause vor grosser Kulisse ein. Ich lasse mich nieder. Wie wunderbar ist die Ruhe und die tiefe Harmonie, die dieser Ort ausstrahlt. Es ist ein Moment, in dem ich die Welt umarmen könnte.
Wenn man eine Weile auf einer Bank sitzt und sich still verhält, kommen die Tiere aus ihrem Versteck. Seit einiger Zeit fliegt ein kleiner Vogel um mich herum und macht durch sein aufgeregtes Gepiepe auf sich aufmerksam. Im Tal habe ich einen solchen Vogel nie gesehen. Er scheint also nur hier oben in den Bergen zu leben. Meine Recherche ergibt: es ist ein Bergpieper. Der Name passt zu seinem Gehabe. Der Bergpieper lebt in den Mittel- und Hochgebirgen Mittel- und Südeuropas sowie Kleinasiens. Die Maserung seines Gefieders ist unauffällig, passend zur kargen Berglandschaft. Vielleicht muss er so aufgeregt piepen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Ganz anders ist es beim Schwalbenschwanz. Der kann auch fliegen, ist aber kein Vogel, sondern ein grosser, prächtiger Schmetterling. Der Schwalbenschwanz ist schwarz-gelb gemustert mit einer dunkelblauen Binde an seinen Hinterflügeln. Ich habe heute schon mehrere dieser wunderschönen Tagfalter bewundert. Sie bevorzugen offenbar die unbewaldeten Bergkuppen und Wiesen mit den vielen Blumen.
Ich mache mich wieder auf den Weg. Jenseits des Huser Stock wird die Stecke schwieriger. Eine heiklere Passage führt entlang einer steilen Felswand und ist mit Ketten gesichert. Wanderer verhalten sich hier vorsichtig und lassen Gegenverkehr durch. So kann nichts geschehen.
Im Osten haben sich die Wolken über den Bergen verdichtet und sinken. Die Spitze des über 2500 Meter hohen Chaiserstock steckt bereits im Dunst. Der Wetterumschwung hatte sich durch Zirren am Himmel früh angekündigt. Es wird rauer und kühler. Der Pfad führt bergauf, scheinbar ins Nichts. Dahinter lockt die alpine Bergwelt. Eine geheimnisvolle Kraft und meine Neugier ziehen mich weiter.