Der Sommer ist vorbei. Die Tage werden wieder kürzer, und mit den fallenden Temperaturen kommt der Nebel. Das kann einen schon etwas melancholisch stimmen. Umso wichtiger ist es, die sonnigen Tage im goldenen Herbst noch einmal so richtig zu genießen. Die Natur wechselt ihre Farbpalette und setzt besondere Akzente. Bäume und Büsche leuchten in warmen Gelb-, Orange und Rottönen. Der Himmel ist tiefblau. Das hebt die Stimmung – ist Balsam für unsere Seele. Darum nichts wie raus, und bei einem Spaziergang ganz viele Sonnenstrahlen einfangen. Begleiten Sie mich doch dabei, um die Gedanken schweifen zu lassen!
Für mich ist der Herbst eine wunderbare Zeit, um zur Ruhe zu kommen und innere Einkehr zu finden. Zeit für etwas Poesie. Klingt altmodisch? Von wegen. Selbst Lady Gaga ist eine große Verehrerin von Rainer Maria Rilke. Sie hat sich sogar ein Rilke-Zitat auf die Innenseite ihres Oberarms tätowieren lassen. Soweit müssen wir aber nicht gehen. Es reicht mir, mein kleines Buch „Gedichte für einen Herbsttag“ dabei zu haben. Noch Jacke und Schuhe anziehen, den Schal nicht vergessen, und los geht’s. Wir wandern an die Limmat. Neben Reuss und Aare ist die Limmat der dritte Fluss im Schweizer Kanton Aargau.
Wir erreichen den Wanderweg, der sich entlang des Flusses zieht. Die hochgewachsene Eichen und Buchen haben ihr Laub in Grün-, Gelb und Orangetönen gefärbt. Einfach herrlich! Diesen Weg schlagen wir ein.
Lassen Sie uns den goldenen Herbst in vollen Zügen genießen, mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen. Welche Farben und Formen können wir entdecken? Wie fühlt sich der Herbst an, welche Laute sind typisch, und können wir den Herbst vielleicht sogar riechen oder schmecken? Alle Sinne bewusst einsetzen – im Alltag machen wir das ja nur selten. Umso schöner, wenn wir uns jetzt die Zeit nehmen. Es macht Spaß, denn wir erleben die Natur in ihrer Reichhaltigkeit viel intensiver, und schärfen obendrein unsere Sinne.
Ein Blick durch das Gehölz zeigt die Limmat. Ihr Wasser zieht gemütlich durch die bunte Herbstlandschaft. Halten wir für einen Moment an und lassen den Anblick wirken. Ich nutze solche Momente, um einfach mal durchzuatmen. Und zwar schön tief aus dem Bauch heraus… Eigentlich ist das eines der schönsten Erlebnisse – einfach ganz frei atmen. Oft ist es uns nicht bewusst. Doch schon Johann Wolfgang von Goethe hatte es gewusst:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wieder verlässt.
Nichts als Blätter. Buchen am Wegesrand haben tausende Blätter verloren, die nun einen Teppich am Boden bilden. Hier macht es Spaß, die Füße über den Boden zu schleifen und dabei die Blätter aufzuwühlen, so dass es raschelt und rauscht.
Nicht nur Blätter fallen von Bäumen, sondern auch Früchte. Als Kinder hatten meine Brüder und ich im Herbst Kastanien und Eicheln gesammelt. Ganze Säcke voll Früchte brachten wir dann zu einem kleinen Zoo im lippischen Kalletal, im Teutoburger Wald bei Detmold. Wir bekamen etwas Geld für das Tierfutter und durften natürlich kostenlos zu den Tieren, was für uns immer ein besonderes Ereignis war. Das kommt mir auf einmal in den Sinn, als ich die vielen Eicheln auf dem Wanderweg sehe und einige davon in die Hand nehme.
Es geht weiter. Der Splitt knirscht unter den Schuhsolen. Jeder Schritt klingt wie ein Sack getrockneter Bohnen, der zu Boden fällt.
Meine Wangen spüren die wärmenden Strahlen der herbstlichen Sonne. Ich bleibe für einen Moment stehen, richte mein Gesicht zur Sonne, schließe meine Augen und genieße die wohltuende Wärme. Bilder und Erlebnisse aus dem Sommer kommen mir in den Sinn… Sie vermengen sich mit den Klängen rauschender Blätter. Ich öffne die Augen – bin wieder an der Limmat.
Am Wegesrand fällt mir ein junger Baum auf, dessen Zweige mit farbigen Blättern fächerartig besetzt sind. Ich nehme eines der ovalen orangeroten Blätter in die Hand. Es fühlt sich glatt an. Von dem Stil geht ein feines Netz roter Äderchen aus.
Das Bäumchen ist eine Traubenkirsche. Im Spätsommer trägt es erst rote, dann schwarze Steinfrüchte, die essbar sind.
Nur wenige Meter entfernt steht ein hoher Busch mit formschönen, dunkelgrünen Blättern und üppigem Fruchtschmuck. Kleine Bündel roter Beeren leuchten vor dem tiefblauen Himmel. Es ist ein Weißdorn.
Der Weißdorn gilt als Heil- und Zauberbusch. Nach alten Überlieferungen soll die Dornenkrone Christi aus Weißdornruten geflochten worden sein und der Wanderstab von Josef aus Weißdornholz geschnitzt. Der Weißdorn trägt im Mai weiße Blüten mit angenehmem Duft. Als Heilpflanze ist er gut für den Herzkreislauf. Ich nehme eine der Früchte und beiße vorsichtig hinein. Sie schmeckt mehlig, säuerlich. “Möt der Schule öst es wie möt der Medözin. Sie muss bötter schmecken, sonst nötzt sie nichts.” So belehrte Professor Crey seine Schöler im Filmklassiker “Die Feuerzangenbowle”. Ich liebe diesen Film. Übrigens, ein Weißdorn kann über 500 Jahre alt werden. Ich staune – ein wahrlich biblisches Alter.
Der Spaziergang führt uns weiter an eine Stelle, wo sich hochgewachsene Ahornbäume farbenfroh im sanften Wind wiegen. Die vielen Blätter schütteln sich im Luftzug und erzeugen im Chor ein sanftes Rauschen. Ich öffne mein Poesiebuch und stoße auf folgende Zeilen:
Der Du die Wälder färbst,
Sonniger, milder Herbst,
Schöner als Rosenblühn
Dünkt mir dein sanftes Glühn.
Goldener Herbst in den Ahornbäumen
Vorbei an Bäumen und Büschen gelangen wir an eine Lichtung mit Blick auf die Limmat. Der Fluss ist fast still, so dass sich die Welt in ihr reflektiert.
Dafür tummelt sich das Leben an einer anderen Stelle des Wassers. Enten und Blesshühner versammeln sich vor dem Wanderer, und hoffen auf ein paar Stückchen Brot. Ich habe immer etwas dabei.
Und schon beginnt der Streit um das Futter, auch wenn eigentlich genug da ist. Gewinnen tuen die kleinen Gewieften oder der majestätisch Schwan, vor dem alle Respekt haben. Es ist wie im normalen Leben.
Das Brot ist verfüttert. Wir ziehen weiter entlang des Flusslaufs, der heute durch ein kompliziertes Spiel mit Farben, Formen, Kontrasten und Spiegelungen fasziniert.
Die Form der Wolken auf der Wasseroberfläche ist in ständiger Änderung. Sie verschwimmen stellenweise wie Wasserfarben, deren Grau- und Weißtöne auf einem blauen Untergrund zerfließen.
Hier direkt am Flusslauf unter einer großen Eiche lädt eine Sitzbank den Wanderer zur Rast ein. Dieser verträumte Ort ist ideal, um die Gedanken fliegen zu lassen. Verbleiben wir doch für eine Weile.
Schau’n Sie mal. Rund herum sieht es herbstlich aus. Die Eiche hat ihre Blätter verstreut. Hin und wieder rieseln weitere Blätter herab. Nichts Besonders, oder doch? Hermann Hesse hatte das einst zu einem Gedicht inspiriert:
„Welkes Blatt“
Jede Blüte will zur Frucht,
Jeder Morgen Abend werden,
Ewiges ist nicht auf Erden
Als der Wandel, als die Flucht.
Auch der schöne Sommer will
Einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
Wenn der Wind dich will entführen.
Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
Lass es still geschehen.
Lass vom Winde, der dich bricht,
Dich nach Hause wehen.
Nun mache ich es mir gemütlich. In dieser Umgebung fühle ich mich inmitten der Herbstzeit. Hier wird Poesie zu einem starken Erlebnis. Poesie ist ja ungemein ausdrucksstark. Es braucht allerdings Zeit und Ruhe, um sie in ihrer Tiefe nachvollziehen und empfinden zu können. Genau diese gesunde Ruhe geht oft abhanden in einer Zeit, die so schnelllebig geworden ist. Die Natur hilft uns dabei, Abstand zu gewinnen, und diese Ruhe und Faszination zu finden, die Lyrik einfach braucht. Schließlich war es auch die Natur, die Dichter zur Poesie zu animierten. So wurde auch Rainer Maria Rilke vom Herbst verzaubert:
„Herbsttag“
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiel den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lang bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Unser Spaziergang geht dem Ende entgegen. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen und Sie animiert, die goldenen Herbsttage mit allen Sinnen zu genießen und sich dabei zu erholen. Sicher haben Sie auch schöne Natur in Ihrer Nähe, die zum Spaziergang einlädt.
Ich habe mir übrigens die schönsten Blätter, die ich unterwegs gefunden habe, mitgenommen. Die verwende ich daheim zur Herbstdekoration. Das ist ein kleiner Trick, damit die positiven Erinnerungen an den Spaziergang noch eine Weile nachwirken.