Schweizer Romantik und Legenden am Urnersee

Schweizer Romantik und Legenden am Urnersee

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„Steffi und ich würden Dich gerne am Samstag, den 1. November, für einen Tag besuchen kommen. Hast Du Zeit und Lust? Würde mich sehr freuen!“, schreibt mir Dominik aus Stuttgart auf Facebook. Wir kennen uns schon seit mehreren Jahren, haben gemeinsam an der Akademie Deutsche POP in München studiert und sind  sehr gut befreundet. Für Dominik und seine charmante Freundin Steffi lasse ich doch glatt den Löffel fallen und antworte spontan: „Hallo Dominik, grossartige News! Ihr seid ganz herzlich willkommen! Möchtet Ihr hier übernachten? Das geht! Wenn Ihr kommt, seid Ihr VIPs – Very Important Persons!!! Wir machen was ganz Nettes, je nach Wetter und Geschmack. Ich freu mich auf Euch! *Stephan“.

Für liebe Gäste nur das Beste! Der 1. November ist ein wundervoller Herbsttag. Die Sonnenstrahlen sind zwar nicht mehr so kräftig und haben etwas Mühe, den Nebel zu vertreiben. Aber sie lassen das Thermometer immerhin auf fast 18 Grad ansteigen. Als Steffi und Dominik eintreffen, gibt es zuerst eine herzliche Umarmung. Es folgt eine kleine Stärkung in der Küche. Dann geht’s auch schon los. Der Tagesausflug führt uns an einen Ort, der aus meiner Sicht eine ganz besondere Ausstrahlung hat und zudem sehr schweizerisch ist. Es geht an den Urnersee in die Kantone Schwyz und Uri. Der Urnersee ist ein Ausläufer des Vierwaldstättersees. Gewaltige Berge ragen hier mit hohen Felswänden zu beiden Seiten aus dem See heraus. Die Landschaft erinnert an einen norwegischen Fjord. An diesem Ort wird der Mythos vom Rütlischwur und Wilhelm Tell lebendig.

Landschaft am Urnersee wie ein norwegischer Fjord
Landschaft am Urnersee wie ein norwegischer Fjord

Wir fahren durch den Mositunnel bei Brunnen auf die Axenstrasse. Als wir den Tunnel verlassen, taucht rechts neben uns der türkisblau leuchtende Urnersee auf. Nur wenige Meter tiefer und wir wären im Wasser. Ich muss mich zwingen, meine Blicke auf die Strasse zu richten. Dominik und Steffi kleben mit der Nase am Fenster – sie sind begeistert. Die Axenstrasse ist eine Schweizer Nationalstrasse benannt nach dem Axen, einer Steilwand am Ostufer des Sees. Die Strasse wurde bereits 1865 gebaut und führt entlang des Seeufers bis zu dem Ort Flüelen. Nach etwa 15 Minuten entspannter Fahrt erreichen wir hinter dem Dorf Sisikon das Hotel Tellsplatte. Hier halten wir, stellen das Auto ab und ziehen los, den Fussweg hinunter zum Wasser. Vor uns erscheint eine Bilderbuchlandschaft: der stille See überzogen mit sanften Nebelschwaden und dahinter die Bergmassive der Urner Alpen. Unter den Gipfeln sind mehrere Dreitausender.

Grandiose Innerschweiz
Grandiose Innerschweiz

Wir folgen einem schmalen gewundenen Waldweg, der stellenweise steil über Stufen abwärts zur Tellskapelle führt. Die Sonne leuchtet hell und wird in den zarten Nebelschleiern über dem Wasser gestreut. Der richtige Moment, um noch einmal die coole Sonnenbrille vom Sommer aufzusetzen und die behagliche Wärme in vollen Zügen zu geniessen. Wir betreten ein Wäldchen. Die hochgewachsenen Tannen erlauben immer wieder Blicke durch das Geäst auf den blau schimmernden See und die prachtvolle Berglandschaft.

Entlang des Waldwegs zur Tellskapelle

Es erscheint das rote Spitzdach des Kapellentürmchens. Die Tellskapelle ist ein Ort mit Ausstrahlung. Sie steht auf einer aus Steinen gefertigten Platte direkt am See – einsam und sehr romantisch gelegen. Die Kapelle wurde im Andenken an den Schweizer Freiheitkämpfer Wilhelm Tell gebaut. Der Legende nach kam es hier zu einer dramatischen Fluchtszene:

Der böse Landvogt von Uri und Schwyz, Hermann Gessler befahl seine Schergen, den aufmüpfigen Wilhelm Tell zu fesseln. Sie sollten ihn mit einem Boot über den Vierwaldstätter See nach Gesslers Burg in Küssnacht am Rigi schleppen. Das Boot war eine Weile unterwegs, als auf der Höhe des Axen ein heftiger Föhnsturm aufkam. Die Wellen schlugen hoch und Wasser drang ins Boot. Gessler und seine Knechte hatten die Hosen voll. Sie befreiten Wilhelm von seinen Fesseln und flehten ihn an, sie alle sicher ans Land zu bringen. Wilhelm übernahm das Steuer und lenkte das Boot heldenhaft zum felsigen Ufer. Womit keiner rechnete: Tell rettete sich mit einem kräftigen Sprung ans Land und stiess zugleich das Boot zurück in die tosenden Wellen. „Danke für die Mitfahrgelegenheit. Eurer Durchlauchtigkeit wünsche ich noch eine angenehme Weiterfahrt auf dem wunderschönen Vierwaldstättersee“, mag er Gessler lachend zugerufen haben.

Die Tellskapelle
Die Tellskapelle

Das war der berühmte Tellsprung. Heute ist auch Föhn, aber kein Sturm. Nicht mal ein Lüftchen weht. Wir geniessen den herrlichen Blick auf die Landschaft aus seichtem Wasser und schroffen Felsen. Die Wellen vom See sind sanft. Sie treffen mit einem wiederkehrenden leisen Plätschern auf die steinerne Befestigung. Wir verharren angesichts des überwältigenden Blicks auf den See, der durch Felswände auf beiden Seiten zusammengehalten scheint. Wolkenzirren vor dem tiefen Blau des Himmels deuten eine baldige Wetteränderung an.

Blick über den See zum Rütli
Blick über den See zum Rütli

In der Ferne am gegenüberliegenden Ostufer fällt uns eine grosse steile Felswand auf. Dahinter befindet sich das Rütli. Rütli ist schweizerisch und bedeutet „kleine Rodung“. Nichts Besonderes könnte man meinen. Doch das Rütli kennt jeder Schweizer. Auf dieser Bergwiese unterhalb der Gemeinde Seelisberg wurde der Sage nach im Jahr 1307 der berühmte Rütlischwur abgelegt: der Eid zum gemeinsamen Kampf gegen die gierigen Habsburger Landvögte, die die Menschen in Knechtschaft halten wollten. Gemäss Geschichtschronik trafen sich die Protagonisten Werner Stauffacher von Schwyz, Walter Fürst von Uri und Arnold von Melchtal aus Nidwalden auf dem Rütli, und schworen den Eid:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Friedrich Schiller, Wilhelm Tell (2. Aufzug, am Schluss der 2. Szene)

Walter Fürst wird manchmal mit dem legendären Wilhelm Tell gleichgesetzt. Ob der aber wirklich dabei war, und ob es ihn überhaupt gab, ist nicht ganz gewiss. Wenn es damals schon Smartphones gegeben hätte, hätten die drei Eidgenossen im grossen Moment des Schwurs sicherlich ein Selfie von sich gemacht. Dann wüsten wir auch, ob Wilhelm wirklich dabei gewesen war. So muss ein Wandgemälde in der Tellskapelle herhalten, um unserer Phantasie auf die Sprünge zu helfen. In der Vorstellung des Malers Ernst Stückelberg aus Basel, der die Tellskapelle 1877 mit Fresken ausschmückte, war die Schwurszene natürlich martialisch und heroisch.

Vielleicht lief die Szene aber auch ganz anders ab, zum Beispiel bei einem gesellschaftlichen Stelldichein mit Chäsfondue und Kirsch. Wir haben so eine fröhliche Variante inszeniert, schwören dabei auf unsere Freundschaft – und bald etwas gegen den aufkommenden Hunger zu tun. Wir haben heute ein Smartphone dabei und machen darum ein Selfie.

Entspannen am Wasser

Wir wandern den Weg weiter entlang des Sees und gelangen zu einem Bootsanleger. Dominik hat ein schönes Plätzchen an der Sonne entdeckt. Ein schmaler Steg aus Brettern führt einige Meter auf das Wasser. Dominik geht vorsichtig auf dem Steg, setzt sich an einen Pfahl, der den Steg hält, nieder und lässt die Seele baumeln. Das Wasser ist glasklar. Man ist geneigt, hinein zu hüpfen, doch es ist viel zu kalt zum Schwimmen. Ich folge Dominik auf den Steg. Steffi macht Bilder. Dann wechseln wir uns ab.

Der Magen meldet sich. Zum Glück ist das Restaurant Tellsplatte nicht weit entfernt. Wir gehen den Rundweg zurück zum Ausgangspunkt. Das Restaurant kommt in Sicht. Von der Gartenterrasse aus kann der Besucher die grandiose Aussicht über den Urnersee bei Köstlichkeiten aus der Küche geniessen. Heute am 1. November laufen die Dinge aber offenbar anders.

Ein Schild vor der Tür verspricht: alles 50% – halber Preis. Hurra, nichts wie rein! Der Restaurantbereich ist voll. Hier wollen alle noch einmal so richtig reinhauen. Dumm ist nur, dass auch die Bedienung auf 50% läuft. Wir sitzen schon eine Weile und hoffen auf die Aufmerksamkeit der Bedienung. „Wie lange warten Sie hier schon?“, fragt mich ein stabil gebauter Mittsechziger – schwarzes Hemd, schwarze Lederjacke, grau melierte Haare. Ihm gegenüber sitzt seine modisch gekleidete Freundin mit langen blonden Haaren. Sie blickt ganz offensichtlich gelangweilt durch ihre grosse Sonnenbrille. „Schon eine ganze Weile“, meine ich zu ihm mit dem sanften Ton der Verzweiflung. „Dann fahren wir mal weiter“. Seine Freundin steht, ohne die Miene zu verziehen, auf und tritt mit ihm ab. Meine Blicke gehen zu Steffi und Dominik: „Können wir noch etwas durchhalten?“ Beide nicken. „Gut, dann fahren wir auch los.“

Die Sonne verschwindet hinter den Bergen

Ab ins Auto, und weiter geht’s. Wir bemerken, dass sich hier unten im Tal die Sonne stellenweise früh verabschiedet. In dem Moment, wo sie hinter einem der hochragenden Berge verschwindet, gehen Licht und Wärme schlagartig verloren. Ich stelle mir vor, dass es für die Menschen hier nicht immer einfach ist, in den dunklen Monaten die Laune hochzuhalten. Heute haben wir jedoch die Chance, die Sonne heute noch etwas länger zu geniessen. Dafür fahren wir hoch auf den Berg, und zwar nach Morschach. Der Weg führt zunächst zurück entlang der Axenstrasse in Richtung Brunnen. Kurz vor Brunnen biegen wir rechts ab auf eine kleine Strasse, die in Serpentinen recht steil in die Höhe führt. Auf einem Plateau angekommen, sehen wir schon die Häuser der Gemeinde Morschach und dahinter, oder besser gesagt darüber, den Fronalpstock. Morschachs Hausberg ist mit 1920 Metern Höhe schon sehr beeindruckend. Wir lassen das Auto auf einem Parkplatz stehen und gehen zu Fuss weiter.

Ich möchte Steffi und Dominik einen weiteren Ort zeigen, den ich besonders mag. Der Weg führt vorbei an einem Bauernhof, wo Kinder Pferde und Kühe besuchen und kennenlernen dürfen. Die Zeiten sind aber beschränkt, denn, so erklärt eine Wandtafel, auch Tiere brauchen Privatsphäre. Also gehen wir weiter, vorbei an einem Konferenzzentrum, in ein Wäldchen. Wir treffen auf einen schmalen unscheinbaren Pfad, der über hölzerne Stufen steil bergauf führt. Diesen Weg schlagen wir ein. Es ist etwas beschwerlich. Als wir die letzten Stufen nehmen und oben ankommen, stehen wir unverhofft neben der Marienkapelle und blicken auf das phantastische Panorama der Urner Alpen.

Urner Alpen
Urner Alpen

Ich bringe immer mal wieder Gäste hoch zur Kapelle. Der Ort hat Magie. Er liegt etwas abgeschieden inmitten eines Naturparadises, so dass die Berge besonders spürbar werden – sie verkörpern Grösse, Freiheit, Zeitlosigkeit, Stille und Einsamkeit. Hier gibt es kaum einen Laut. Nur der Wind pfeift hin und wieder. Einige Bergdohlen ziehen ihre Kreise und kreischen ab und zu. Die untergehende Sonne erzeugt ein einzigartiges Schattenspiel zwischen Bergen und Tälern.

„Es kann nicht leben, wer nicht lieb“

Vinzenz Pallotti, 1795 – 1850
Panorama rund um die Marienkirche in Morschach
Panorama rund um die Marienkirche in Morschach

Wir drücken den Griff der Eingangstür zur Kapelle nach unten. Es ist geöffnet. Wir treten ein. Niemand ist in der Kapelle. Der Innenraum wirkt schlicht, jedoch prächtig ist der Altar. Die leuchtenden Kerzen neben dem Altar deuten darauf hin, dass hier erst vor kurzem Menschen zu Besuch waren. Schriften am Eingang erklären, dass die Kapelle den Pallottinern gehört. Ich gebe zu, dass ich von dieser Organisation nie zuvor gehört habe. Meine spätere Recherche ergibt, dass es sich dabei um eine Glaubensgesellschaft handelt, die auf den Römer Vinzenz Pallotti zurückzuführen und der katholischen Kirche angegliedert ist. Pallotti hatte eine einfache und zugleich radikale Überzeugung: alle Getauften sind Apostel, nicht nur die Amtsträger. So ermutigte er Menschen, auf ihre eigene Art fantasievoll Apostel zu sein. Die katholischen Machthaber waren sauer: „Das normale Volk soll auf dem gleichen Niveau wie ein Apostel stehen? Am Ende sind wir noch alle Päpste“. Klar, dass sie Pallotti bekämpften. Erst einhundert Jahre später brachte Papst Johannes XXIII. Pallottis Ideen ins Konzil ein und ernannte ihn sogar zum Konzilpatron – da war dann alles Pallotti.

Innenraum der Marienkapelle
Innenraum der Marienkapelle

Wie selbstverständlich zünden wir in der Kapelle eine Gedenkkerze an und stellen sie zu den anderen. Die flackernden Kerzen werfen einen fröhlich tanzenden Schein an die Decke. In diesem Moment denke ich an die Menschen, die mir etwas bedeuten und jetzt nicht hier sein können. Ich glaube Steffi und Dominik geht es ähnlich. Wir sind für einen Moment still. Schliesslich verlassen wir die Kapelle.

Ein wunderbarer Tag geht dem Ende entgegen

Die Sonne ist hinter den Bergen verschwunden. Ihr Hof wirkt wie ein Heiligenschein und beleuchtet die Zirruswolken am Himmel. Sie sehen aus wie gewaltige Federn. Es wird dunkel und kalt. Da fällt es uns auf einmal wieder ein: „Mein Magen knurrt“, stöhnt Dominik. „Oh ja, ich hab auch Hunger!“, bestätigt Steffi. Das ist eine Steilvorlage für mich: „Na wunderbar! Dann darf ich Euch beide zum Abschluss zu einem leckeren Essen im Swiss Holiday Park einladen. Da gibt’s auch sicher 100% Service.“

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